Freitag, 29. November 2019

Wie kommen die historischen Thüringer ins Französische Tours?

Toronen an Atlantik und "nahe der Hessen"
(Siehe gleichnamiges Video auf YouTube)
Die Region Touraine begleitet den Fluss Loire auf dessen Weg in den Atlantik. Wie in jedem französischen Gebiet, das etwas auf sich hält, wird Wein angebaut und die Geschichte von den Kelten abgeleitet. Hier soll nach römischem Bericht der gallische Stamm der Turonen gelebt haben. Und nicht wenige französische Historiker glauben, dass dieser mit den Thüringern verwandt, wenn nicht gar identisch ist.
Die Hauptstadt von Touraine ist Tours. Bauliche Spuren hinterließen in der Kommune nur Römer, Westgoten und Franken. Die Stadtgeschichte beschreibt, wie man von Arabern, Normannen und Engländern bedrängt wurde. Französische Könige sollen oft und gerne in der alten Bischofsstadt residiert haben. Von keltischen Turonen aber fehlt jede Spur. Tatsächlich jedoch existierte ein gleichnamiger Stamm der Turonen im fernen Germanien. Der griechische Geografen Ptolemäus verortete ihn nahe der Chatten im heutigen Hessen. Ein Zufall? Eine Verwechslung?
Wanderten die Kelten von den  Gleichbergen
 an den Atlantik ab?
Einige französische Forscher glauben an einen gemeinsamen Ursprung der Turonen von Loire und Werra und sehen in den keltischen Oppida auf den Gleichbergen in Südthüringen deren Residenz. Tatsächlich wurden die Höhensiedlungen im Landkreis Hildburghausen gegen 50 v. Chr. aufgegeben. Die Bewohner verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Teile der Kelten sichtete man später am Mittelmeer und am Atlantik. Selbst noch bei den von Norden nach Südthüringen nachwandernden germanischen Hermunduren sehen einige Historiker Zusammenhänge und setzen die Nachsilbe Duren mit Turonen gleich. Schließlich seien Germanen und Kelten verwandte Ethnien mit demselben indogermanischen Hintergrund, nur getrennt durch den mächtigen Rhein und die erste deutsche Lautverschiebung. Wie aus Chatten Hessen wurde, soll der Name der Thüringer aus der Abwandlung von Touroner-Turoni-Thoringi entstanden sein. Wilde Spekulationen?
Tours mit frühen Beziehungen zu Thüringen

Von all dem sieht man in Tours jedenfalls nichts. Hier konzentriert man sich wie überall auf Geschichte, die man anfassen oder lesen kann. Dazu gehört der französische Nationalheilige Sankt Martin, der Begründer des Christlichen Mönchtums und 3. Bischof von Tours. Er soll als römischer Offizier seinen Mantel mit einem frierenden Bettler geteilt haben. Seine Verehrung und Aufbahrung in Tours wurde vor allem von einem seiner Nachfolger, Bischof Gregor 200 Jahre später vorangetrieben. Und dieser wird nun wieder für die Thüringer interessant. Er war nämlich Vielschreiber und seine Bücher gelten heute als die wichtigsten Quellen für den Übergang von der Antike ins Mittelalter. Und darin spielen die Thüringer eine maßgebliche Rolle.
Gregor von Tours als Historiker über Thüringen
Nicht nur, dass Gregor von Tours die Invasionen seiner fränkischen Könige ins benachbarte Thüringer Reich en detail beschreibt, er widmet wesentliche Passagen den thüringisch-fränkischen Beziehungen. Dazu wartet er mit rührseligen, aber bezeichnenden Geschichte auf: Der fränkische Königsanwärter Childerich habe beispielsweise gegen 450 unserer Zeitrechnung 8 Jahre Exil im Thüringer Königshaus verbringen müssen. Dort verliebte sich Basena in ihn, die Frau des Thüringer Königs, und begleitete in ehebrecherisch zu dessen Krönung nach Frankreich. Gregor von Tours stand auch in Verbindung mit der Thüringischen Prinzessin Radegunde.
Schriftverkehr mit der Thüringer Prinzessin Radegunde
Diese war nach Unterwerfung durch die Franken 531 verschleppt und mit dem Sieger Chlodar I. zwangsverheiratet worden. Der soll sogar ihren Bruder eigenhändig ermordet haben! Radegunde blieb nur das Schicksal als Nonne, Wohltäterin und Heilige, was von ihrem Freund und Priester Fortunatus in Frankreich beschrieben wurde. Solche Geschichten gibt es Dutzende. Woher stammt wohl diese historisch beispiellose Verbindung von Franken und Thüringer noch im Frühmittelalter? Vergessen wir nicht, dass das heutige Franken in Bayern von Paris aus seit 531 zielgerichtet besiedelt wurde und mit Thüringen eine herzogliche Verwaltungseinheit bildete. Tours also Thüringisch? Auch dem belgischen Tournai wird übrigens eine solche Verwandtschaft angedichtet.
Die renommierte Historikerin Heike Grahn-Hoek lehnt heute jedenfalls ein linksrheinisches, also französisches Thüringerreich ab.
Radegundes Biograf: Venantius 
Fortunatus
Sie leitet aber die Herkunft der Thüringer von den Terwingen ab, einem Teilstamm der Ostgoten. Deren Brüder wiederum, die Westgoten, gründeten ja bekanntermaßen 418 an der Atlantikküste ein eigens Reich. Sie kamen 473 auch bis Tours. Die Franken erst 20 Jahre später. Schließt sich hier ein imaginärer Kreis?
Alles Quatsch, sagen andere. Die Wirren der Völkerwanderungen am Ende der Antike verlieren sich im Dunkel der schriftlosen Zeit: Und was ein Historiker nicht lesen kann, lehnt er im Zweifelsfall ab. Namensgleichheiten wie bei den Turonen gibt es mehrere, keltische Oppida zwischen Hessen und Thüringen Dutzende, Cäsar nannte die Kelten um den Thüringer Wald Volkae, für die Verbindung von fränkischen und thüringer Königsdynastien reichen schon ihre germanischen Wurzeln. Sicher ist nur: Die Römer siedelten in Tours auf einem keltischen Hügel und bezeichneten ihn als Caesarodunum - Cäsarenhügel. Die Stadt gilt von Anfang an als wichtige Kreuzung eines Nord-Süd-Handelsweges mit der Loire, wegen den hier auftretenden, leicht zu überwindenden Sandbänken. Vielleicht bezeichnet das indogermanische „Tour“ nur den entsprechend abgebildeten Reiseabschnitt, die Region Touraine nur den dazugehörigen Abhang am Fluss. Doch da sind wir schon wieder am Spekulieren.
Heike Grahn-Hoek: Wie aus Terwingen Thüringer wurden
(Siehe Post in diem Blog)

Völkerwanderung der Gothen
Flüchtige Reiche: Nur die Bewohner blieben
Heike Grahn-Hoek: Kein "linksrheinisches" Reich der Thüringer

Völkerwanderung der Volcae im Post: Als die Kelten abgezogen waren (Post in diesem Blog)
Duren in Hermunduren heute noch offizielle Lehrmeinung über die Herkunft der Thüringer

Donnerstag, 21. November 2019

„Notschreie“ aus Suhlerneundorf (von C.A.)

Im großen Nordischen Krieg von 1700 bis 1721 wurde die im 30-jährigen Krieg eroberte Vormachtstellung Schwedens im Ostseeraum vernichtet. Friedrich August I. von Sachsen u. Polen, Zar Peter I. von Rußland und Friedrich IV. von Dänemark, hatten ein Bündnis gegen den Schwedenkönig Karl VII. geschlossen und den o.g. Krieg vom Zaun gebrochen. Da Polens König Friedrich August I. auch Kurfürst von Sachsen war, wurden auch die sächsischen Länder mit Krieg überzogen.
So kamen am 25. September 1706 auch 4000 Reiter unter dem schwedischen Obristen Görtz nach Suhl und nahmen 1790 Flinten, 214 Karabiner und 516 Pistolen als Kriegsbeute mit. Obwohl die Suhler dem schwedischen Befehlshaber erklärten, dass ihre Stadt nicht zum Kurfürstentum Sachsen, sondern zu Sachsen-Naumburg-Zeitz gehöre, half ihnen das nichts. Die Stadt musste sogar noch 2050,- Reichstaler Kriegssteuer bezahlen.
Besonders schwer wurde Suhlerneundorf heimgesucht, wie aus einem Brief vom 1.10.1706 des Schultheißen Michael Schlegelmilch von Neundorf an den Herzog Moritz Wilhelm zu Sachsen-Naumburg-Zeitz hervor geht. Er schreibt u.a.:

„Euer Hochfürstlicher Gnaden wird ohne Zweifel schon hinterbracht worden sein, daß der schwedische Oberst Görtz mit einer Partei zu Pferde nach Suhla gekommen und allda etliche Tage mit der Truppe still gelegen, wobei uns arme Suhlerneundörfer das Unglück betroffen, daß die Feinde, welche auf 500 Mann und 600 Pferde stark, sich in unserem Dorf einquartiert und übel mit uns umgegangen ist.
Das Dorf ist klein und arm, und doch sollte es 600 Pferde und 500 Man unterhalten, welche mit dem Bier und Fleisch, das wir liefern konnten, nicht einmal zufrieden waren. Wir müssen gestehen, daß wir nicht genügend hatten, sondern deswegen zu Schleusingen, bei dem Amt, zu dem wir gehören, um Hilfe suchen mußten. Allein es konnte uns weder mit Hafer, Bier, Fleisch noch Brot geholfen werden. Da nahmen wir Zuflucht zu dem Amt Suhl und verlangten von dem selbigen dergleichen. Es wurde uns abgeschlagen und wurden an unser Amt verwiesen, wiewohl uns doch die Suhler mit etwas Hafer, Fleisch und Brot geholfen haben. Von unserem Amt ist uns gar keine Hilfe widerfahren und weil wir nun die Soldaten auch mit dem Nötigsten nicht versorgen konnten, wurde von uns desto mehr gefordert und wir noch übler gehalten. Sechs Nachbarn sind deshalb fortgezogen und unser weniges Getreide wurde uns genommen. Von den Getreidehalmen auf dem Felde wurden die Körner abgeschnitten, um damit Pferde zu füttern. Die Soldaten waren über alles hergefallen.
Ein Schaden von 811 Gulden, 20 Groschen, 2 Pfennige ist festgestellt worden, ohne was in Gärten und Häusern verderbt worden ist. Wir sehen keinen Lichtblick, haben keine Mittel, wie sich unser Dorf wieder in etwas erholen könnte, wenn uns nicht von der Regierung ein Beitrag gegeben wird und wenn es nicht zum Amt Suhl, welches uns am nächsten gelegen und wo wir bei vorfallenden Gelegenheiten am ersten Hilfe haben können, geschlagen werden.
Das Entlegensein des Amtes Schleusingen verursacht viele Kosten; doch müssen wir rühmen, daß Recht und Gerechtigkeit uns von dem selben widerfahren ist. Ew. Hochl., unser Gnädigster Fürst und Herr wolle keine Ungnade auf uns werfen, wenn wir bei diesen Umständen um eine Gnade untertänigst ersuchen und flehen untertänigst, es wolle die Regierung befehlen uns vom Land Henneberg ein Beitrag gezahlt werden möchte, und sodann-uns die Gnade erzeigen, damit unser Dorf zum Amt Suhl geschlagen werden möge.“

Ob der Notschrei des Suhlerneundörfer Schultheißen Erfolg gehabt hat, darüber berichten die Archivakten nichts. Sie melden nicht, ob die Gemeinde von der Herzoglichen Regierung oder vom Amt Schleusingen den Schaden von 811 Gulden, 20 Groschen, 2 Pfennige ersetzt bekommen hat. Das Dorf ist bis 1815 beim Amt Schleusingen geblieben. Nachdem unsere Region an Preußen fiel, wurden die bisherigen Ämter Schleusingen, Suhl, Kühndorf und Benshausen zum Kreis Schleusingen zusammengefasst. Suhl- Neundorf blieb so auch weiterhin mit Schleusingen verbunden. Nach 1945 wurde das Dorf nach Suhl eingemeindet und wird nun Suhl-Neundorf genannt. Der Kreis Schleusingen wurde, nachdem schon 1928 in Suhl neue Gebäude für die Kreisverwaltung gebaut worden waren, aufgelöst und Kreis Suhl Land genannt.

Eine alte Chronik von Suhl-Neundorf berichtet u. a. außerdem folgendes:

Es wird berichtet, dass am 2. Juni 1738 über unser Dörflein ein sehr starkes Gewitter zog, welches ungeheuer viel Regen brachte, wie es seit Manns Gedenken hier nicht gewesen ist. Während des schlimmen Wütens kamen auch die Bauern von den Feldern nach Hause. In dem schlechten wasserreichen Aspenwege waren Werner Schlegelmilch mit 2 Wagen und 7 Ochsen, Caspar Zimmermann mit ein Wagen und 4 Ochsen, Johann Adam Heym mit ein Wagen und 3 Ochsen und Michael Dähn mit 1 Wagen und 3 Ochsen. Das Wasser der Aspenhöhle war bereits bei drei Ellen gestiegen und es kam mit solcher Macht angeschossen, daß es sämtliche Wagen und Ochsen zurücktrieb bis zur Mühle, wo das Mühlwasser raus gehet. Die Bauern konnten sich retten, aber Wagen und Tiere lagen dort wirr durcheinander. Es sind drei 3 Ochsen von Werner Schlegelmilch und 1 Ochse von Joh. Caspar Zimmermann ersoffen, die Wagen waren bis auf einen sämtlich arg mitgenommen.
Am 22. Juni 1738 ist die Brücke beim Armenhaus verdingt worden. Welche die hiesige Gemeinde und die Stadt Suhl gebaut haben zu gleichen Teilen. Dieselbe kostete insgesamt 27 Reichstaler, 3 Batzen.
Nach der Schlacht bei Jena und Auerstädt von 1806, sind die Gefangenen und Blessierten (Verwundeten) zu Tausenden abtransportiert worden. In Suhl haben auch eine große Anzahl Kranker zur Kur gelegen, und zwar aus unserem Ort Georg Christoph Schlegelmilch, Lorenz Schlegelmilch, Fritz, sein Sohn, der mit einer gehackten Kugel am Dickbein verwundet worden war, wurde hier ausgeheilt.
Nachdem im Dezember 1806 den Preußen die Kanonen durch Napoleon abgenommen worden sind, mußten die Hessen und die Henneberger Bauern Vorspann leisten bis nach Schweinfurt. Da hat Sühler-Neundorf auch 66 Stück Ochsen mit zur Anspann müssen geben und Suhl auch viel.
Den 16. August 1807 ist in Wiedersbach ein Brandunglück entstanden. Es sind vom Feuer 5 Häuser und 5 Stadel vernichtet worden. Da hat jede Gemeinde nach ihrem Vermögen einen freiwilligen Beitrag geleistet. Unser Ort gab 6 Taler, 6 Groschen gut Geld. Mehr konnte nicht gegeben werden, weil die Nachbarn aus ihrem eigenen Vermögen ein Stockwerk auf das Schulhaus gebaut hatten.

Im Jahr 1806, den 4. September, suchte der Schullehrer Georg Michael Furch um eine Umtauschung des Schulrodes nach, welches mit Büschen und Ameisenhügel, verwachsen war. Das geistliche Untergericht endlich brachte es soweit, daß 1811 an der „Wanne“ das Schulland geschaffen wurde und bereits am 21. April 1812 war es versteint und gereinigt. Es war gefordert, daß die Versteinerung und Reinigung der Lehrer Furch selbst tragen sollte. Das Konsistorium aber verlangte die Kosten von der „Heilige“. Da der Heiligenkasten aber stets recht mager war, so besorgten die Nachbarn der Gemeinde die Urbarmachung selbst. Es haben dieselben ohne Ausnahme zwei Tage gearbeitet. Es haben 221 Personen daran gearbeitet, männliche und weiblich, und haben nicht die Hälfte urbar gemacht. Der Lehrer Furch hat Korn und Erdäpfel darauf angebaut.
Im Jahre 1814 wurde dem Schullehrer ein Backofen bewilligt. Derselbe hat gekostet 20 Taler, 8 Groschen, 16 Pfennige. Ist ein wenig viel für einen Backofen von Lehm, schreibt der Chronist.

1833 wird in die Chronik eingetragen:

„Im vorigen Jahre und in diesem Jahre hatten wir eine trockene Witterung, wie sich nicht leicht wenige Menschen erinnern. Diese Trockenheit erstreckte sich beinahe durch ganz Europa. Man klagte über Mangel an Regen nicht bloß in Nord- und Mitteldeutschland, sondern auch in Frankreich, Dänemark und Rußland. Das Getreide auf dem Felde und das Gras auf den Wiesen litten sehr. Diese Trockenheit ist in diesem Jahre noch empfindlicher und nachteiliger als im vorigen Jahr. Weil bei uns schon die großer Hitze seit dem 2. Mai eingetreten ist und bis Ende Juni fortgedauert hat. Auf sandigen Feldern haben daher alle Getreidearten sehr gelitten, ja manche sind fast verdorrt. Im lehmigen Boden steht das Wintergetreide fast im Ganzen gut, nur trifft man Felder an, wo der Roggen sehr flache Körner hat und vor der Zeit reif wird. Aber wie sieht es in der Auengegend und auf Feldern mit nassen Böden aus ? Hier erblickt man das Wintergetreide in einem trefflichen Zustande, es hat lange Ähren und dicke Körner. Eben diese Gegenden liefern in trockenen Jahren Ersatz für das, was auf den trockenen fehlt. Sie ergaben reiche Ernten und ersetzen den Ausfall auf den letzteren. Daher treten wohl höhere Preise aber keine größeren Teuerungen ein. Auch stehen bis jetzt die Kartoffeln sehr gut und ob es schon sehr an Futter für das Vieh gebricht und die Heu-, sowie die Grummeternte sehr schlecht ausfällt, so werden doch noch immer genug Kartoffeln für die Menschen übrigbleiben, wenn auch das Vieh viel verzehren sollte. Man baut jetzt alle Jahre weit mehr Kartoffeln und sie ersetzen was hier und da an Getreide fehlt.

Sag ich doch: Die Kartoffel macht es.


Quelle: Henneberger Heimatblätter Nr.10a/1923

Montag, 11. November 2019

Einführung in die hier verwendeten Prinzipien der Altstraßenforschung

Bekannte mittelalterliche Altstraßen:
verwendet seit spätneolithischer Zeit?
Dieser Beitrag hier wurde nur geschrieben, um die vielen in diesem Blog untersuchten Altstraßen zusammenzufassen (Siehe Seitenleiste).

Seit 25 Jahren erforsche ich das urzeitliche Wegesystem und das Siedlungsverhalten in Europa. Was als Hobby begann, führte mich zu Erkenntnissen, die ich noch nie bei anderen Geografen, Archäologen oder Historikern gelesen hatte: So scheinen nicht nur mittelalterliche Heere und Händler immer wieder auf die gleichen Trassen zurück gegriffen zu haben, sondern auch die antiken Völkerwanderungen, die frühen Metallurgen, ja selbst die ersten Bauern.
Das Geheimnis solcher seit vielleicht 7000 Jahre wiederverwendeten Verkehrsstränge muss im geografischen Potential der wasserscheidenden Kammwege liegen. Ihre sinnfällige Verknüpfung scheint bis ins Frühmittelalter der gängigste Weg gewesen zu sein, um von A nach B zu gelangen. Das können die Höhenwege der Mittelgebirge oder unscheinbare Erhebungen im Flachland sein. Kurz oder lang, auf schmalen Stegen oder variantenreichen Hochebenen. Die Wasserscheiden dienten natürlich nur als Orientierung: Wenn sie in eine andere als die gewünschte Richtung führten, musste man mit der Querung von Wasserläufen eine neue Höhe suchen. So scheinen die meisten Siedlungen aus Furten an den Flüssen entstanden zu sein. Hohlwege und "Leiten" zeigen die Auf- und Abstiege zu ihnen an.
Solche "Schlängellinien zwischen den Quellen entlang" liefern die meisten archäologischen Denkmale und Funde von megalithischer Zeit bis ins Frühmittelalter, verknüpfen sich über Furten mit frühesten Siedlungen zu einem regelrechten prähistorischen Wegenetz, und spätestens alle 20 Kilometer - dem Tagespensum eines Ochsenkarrens - tauchen zeitgemäße Höhenbefestigungen zur Sicherung und Versorgung der Reisenden auf.
Auf welchen Pfaden lustwandelten die Menschen
der bekannten Völkerwanderungen?
Ich habe bei meinen Untersuchungen keine Ausnahme gefunden. Sogar fast alle der bekannten mittelalterlichen Altstraßen wie die Via Regia oder die Heidenstraße funktionieren nach diesem Prinzip. Selbst die Lücken der bestens erforschten Römerstraßen lassen sich mit ihnen schließen. Die längste noch heute gängige Fernverbindung auf unserem Kontinent ist die Europäische Hauptwasserscheide von Gibraltar bis zum Ural mit ihren zwei wichtigsten „Abkürzungen“ an den Ausschlägen zu den Quellen von Ebro und Rhein (früher Hauptstrang der Höhenvariante des Jakobsweges). Sicher gab es auch viele andere urzeitliche Wege, aber die Wasserstraßen scheinen die meisten Anhaltspunkte zu liefern und damit einige Sicherheit bei Orientierung und Erforschung. Ihre Nutzung sollte auch mit den Klimaschwankungen korrelieren. Höhensiedlungen und -wege scheinen nicht nur der Sicherheit wegen angelegt worden zu sein, sondern auch, weil es zumindest partiell keine Alternative gab.
Hintergrund dieses strategischen Musters scheint das Zusammenspiel von fortschreitender Siedlungsentwicklung, klimatischen Umbrüchen und vor allem das immer gleiche technische Knowhow der Fortbewegung zu sein. Seit den ersten Wagenkarren um 3500 v. Chr. bis zur ersten Dampfmaschine im 19. Jahrhundert wurden Zugtiere als Antrieb eingesetzt. Bis zu den Römern muss fast jede Bewegung auf unbefestigtem Gelände stattgefunden haben. Wer je auf einem Leiterwagen mit Pferden oder Ochsen durch freies Gelände kutschiert ist, weiß, was dabei geht. Auen und Täler sollten vor klimatischer Austrocknung und Melioration viel zu versumpft gewesen sein, um durchzukommen.
5000 Jahre das gleiche Prinzip
Trockenes, vor Überfällen sicheres und vor allem schnelles Reisen war nur möglich, wenn man sich zischen den großen und kleinen Gewässern hindurch schlängelte. Kein ewiges Auf und Ab, keine Umwege! Bloß in den Hochgebirgen musste man auf die Talränder zurück greifen. Dieses Prinzip führte über die Jahrtausende zu Zwangsführungen und an den großen Flussübergängen zu Zwangssiedlungen, die noch heute unsere urbane Struktur bestimmen. Selbst Abweichungen fügten sich in dieses System, wenn z. B. Bodenschätze erschlossen werden sollten, wie Metalle, Salz, Bern- und Feuerstein, oder - nicht erst seit den Römern - politische Grenzen Einhalt geboten. Diese Struktur wird durch die vielen gleichlautenden Flur- und Ortsbezeichnungen überall untersetzt. Auch die immerwährende Nachnutzung von Weg und Station zieht sich wie ein roter Faden durch die Siedlungs- und Verkehrsgeschichte Europas. Natürlich gab es ständig auch Veränderungen, Ausnahmen, Irrungen, Experimente, Abkürzungen, neue Zwänge. Tausende Jahre Überformung der Landschaft lassen meist nur noch die Orientierung an Korridoren zu.
Keltensiedlung Staffelberg: 
Aus einer frühen Wegesicherung 
entstanden?
Überraschend oft aber zeigen Hohlwege, Straßennamen und schmale Kammwege den „haar“-genauen Verlauf. Die langsame Verlagerung der Wege ins Tal ab 1000 v. Chr. etwa ist gut nachzuvollziehen. Aber immer, wenn sich die Verkehrsführungen veränderten, hatte das Auswirkungen auf die Siedlungen: Wüstungen, vergessene Befestigungen und Stillstand in der Entwicklung einer Stadt beispielsweise sprechen ein beredtes Bild.
Mit dieser Wasserscheidentheorie lassen sich nicht nur Ortsgründungen in vorschriftliche Zeit verlegen, sondern auch Voraussagen für archäologische Funde machen. Manch unbedeutendes Kaff kann sich so leicht als frühmittelalterlicher Handelsknoten entpuppen. Als ich vor Jahren den Erzgebirgskammweg der Bronzezeit zuordnete, wurde ich von den Historikern verlacht. 2018 fand man die entsprechenden Bergwerke bei Altenberg. Dabei ist so etwas nicht schwer, muss man nur die Hypothese der Höhenwege verinnerlichen. Die indogermanischen Flurnamen beispielsweise weisen oft in eine Zeit nach 1200 v. Chr., die meisten unverständlichen Worte ins Alte Europa davor. Die vergleichende Archäologie führt uns zu historisch typischen Geländedeformationen der frühesten Höhensiedlungen, auch ohne aufwendige wissenschaftliche Grabungen.
Alle in diesem Blog behandelten Urwege werden als 
interaktive Karten bei Google Maps dargestellt
Umgekehrt kann man von zeitlich bekannten Umbrüchen des Siedlungs- und Bestattungsverhaltens unserer Vorfahren auf konkrete extreme Umweltveränderungen und Völkerbewegungen schließen. Unantastbare Lehrmeinungen zu archäologischen Themen scheinen in diesem System einer völlig neuen Bewertung zu harren: Genetische Triften, Völkersymbiosen, Großsteinanlagen, Feldterrassen, Menhire, und Steinkreuze. Sogar antike Mythen erscheinen in einem neuen Licht. Klappert man deutschsprachige Flur- und Ortsnamen nach einem Wegebezug ab, scheinen diese ganz Mitteleuropa zu dominieren. Das Prinzip, wonach erfolgreiche Gemeinwesen früh klimatisch begünstigt waren, scheint sich durchgesetzt zu haben. Ich behaupte, sie waren auch geografisch determiniert. Es könnte sogar sein, dass noch eine geologische Komponente über die globalen Naturkatstrophen hinzukommt, aber dass ist schon wieder ein anderes Thema.