Mittwoch, 18. Dezember 2019

Limes forever?

Ostdeutschland - der ewige Sonderfall?
Eine Glosse auf die historischen Wurzeln der Ossis

Dunkeldeutschland hört man aus den Medien, der ewige Ossi, faul, große Fresse, fremdenfeindlich. Nun mag man wohnen, wo man hingeboren wurde, politisch stehen, wo man will, anders erscheint er schon, der Bürger aus der ehemaligen DDR. Das zeigt auch gutgläubigen Gemütern: jeder trägt nicht nur seine Gene mit sich herum, sondern auch seine geografische und geschichtliche Herkunft.
Schaut man sich die Historie Deutschlands an, so scheint es sie schon immer gegeben zu haben, die Grenze zwischen West- und Ostdeutschland, Hell und Dunkel, zwischen technologischem Fortschritt und Hinterwäldlertum, zwischen Einsicht und Aufmüpfigkeit. Diffus zwar, im Laufe der Jahrtausende mehrfach verschoben, aber immer fassbar! So kann man nicht nur den Eisernen Vorhang zwischen Imperialismus und Kommunismus an dieser Scheidelinie festmachen, sondern auch zwischen Industrialisierung und Agrarwirtschaft, Königtum und rebellierenden Provinzen, Katholizismus und Reformismus, Römer und Barbaren, Kelten und Germanen, ja noch früher Glockenbecher- und Schnurkeramiker oder Megalith- und Bandkeramischer Kultur. Seit der ersten Besiedlung scheinen sich an Rhein und Main die Geister zu scheiden. Selbst das Wetter spielte mit.
Besonders der römische Limes muss diese Grenze 500 Jahre lang verfestigt haben. Über seine Wirkung bis heute scheint alles geschrieben worden sein, aber nicht was er in den Köpfen der Menschen angerichtet hat. Sein Verlauf ist bekannt. Von Rotterdam zog er den Rhein hinauf, bei Rheinbrohl den Fluss überschreitend, in der fruchtbaren Wetterau weit nach Osten ausschlagend, schnurstracks runter zum Main, wieder ein Stück flussaufwärts, dann linealmäßig runter nach Lorch bei Heidenheim und dann gerade durch nach Regensburg. Von dort übernahm fast durchgängig die Donau die Abgrenzung bis ans Schwarze Meer. Seine Perfektion und Geradlinigkeit können einen heute noch ganz wirre machen.
Der Limes: Nachwirkungen bis in unsere Zeit

Nun ist der Limes nicht die Zonengrenze, werden sie sagen, aber die römischen Legionen operierten ja weit über ihre Reichsgrenze hinaus. Im fränkischen Marktbreit und im hessischen Hedemünden standen ihre östlichsten Garnisonen. Feldlager bei Gotha und in der Goldenen Aue sowie die Schlacht am Harzhorn markieren dann fast schon die ehemalige innerdeutsche Grenze. Und ein bisschen Spielraum dürfen wir den kommenden 1500 Jahren ja auch noch zugestehen! Die heutigen Franken - auch jenseits des Limes - sind jedenfalls bei den Bayern auch nicht besonders angesehen.
Nachdem Cäsar die Gallier gegen 40 v. Chr. geschlagen hatte, bauten die Römer ihre Provinzen in ganz Westeuropa zielstrebig aus. Sie setzten ihre Garnisonen in unmittelbare Nachbarschaft der besiegten Stämme. Die konnten so gut in Schach gehalten werden, man hatte billige Sklaven und außerdem fanden sich an diesen Orten ja sämtliche auszubeutenden Ressourcen, vor allem in Landwirtschaft, Bergbau und Metallverarbeitung. Sie erinnern sich? Die Treuhand lässt grüßen! Schon damals gab es militärische Koalitionen, mit denen die Römer ihr Einflussgebiet bis zu den Barbaren im Osten ausdehnen konnten. Rhein und Donau waren vor den Landratten im Osten ziemlich sicher. Um aber die fruchtbaren Rheinebenen zu sichern, entstand dieser furchteinflößende Limes in den Mittelgebirgen von Taunus, Spessart, Odenwald, Schwarzwald, Schwäbische- und Fränkische Alp. Erst so konnte sich dieses flächendeckende landwirtschaftliche System um die sogenannten Villa Rustika entwickeln.
Ihre Erfolge machte die Neuen Herren aus dem Süden arrogant:
Die Römer wirkten bis tief in das spätere Franken hinein. In 
Ostdeutschland hatten sie nichts zu vermelden.
Ihr Hoheitszeichen SPQR - Senat und Volk von Rom - war Symbol ihrer Macht und ihres Sendungsbewusstseins. Innerhalb der bestehenden militärischen Ordnung konnte sich so etwas wie Demokratie und Freie Marktwirtschaft entfalten, auch wenn das damals noch nicht so hieß. Der neue Reichtum ließ die unterdrückten Kelten schnell die verlorenen Schlachten vergessen. Sie siedelten nahe der Macht neben den Kastellen als Dienstleister. Bademeister, Nutten und Wasserträger wurden zu allen Zeiten gebraucht. Wen stört es schon, dass da vieles nur Fassade war. Immerhin konnten so Deutschlands erste Städte entstehen, wie Trier, Köln, Worms und Speyer.
Natürlich schauten die Germanen im Osten voller Neid in den reichen Westen. Durch Handel und Raubzüge versuchten sie etwas vom Kuchen abzubekommen. Manches Westpaket muss damals den Limes passiert haben. Neueste Erkenntnisse von Historikern: Der Limes wurde nur gebaut, um die Warenströme von Ost nach West und umgekehrt zu kontrollieren. Solche Thesen können nur von Leuten kommen, die keinen Wehrdienst geleistet und geostrategisches Denken gelernt haben. Wer betreibt solchen Aufwand um ein paar Karren aufzuhalten? Da hätten einige Schlagbäume an den Wegen ausgereicht. Wohlstand überzeugt nämlich immer - auch die DDR musste letztlich Intershop und Valuta-Mark einführen. Wie stark der Wunsch nach Südfrüchten und schnellen Karren unter Fellträgern werden kann, wissen wir. Entsprechend groß der Druck auf den Limes.
Der ewige Ossi?

Knapp 300 Jahre hielt er stand. Schließlich hatte man Erfahrung. So grenzten sich die Römer überall gegen ihre Neider ab. Ein Kastell am Rhein sah genau so aus, wie sein Pedant in Syrien. Ein beeindruckendes Bollwerk, auch wenn das Leben in den Türmen sicherlich kein Zuckerschlecken war. Man stelle sich vor: 10 Mann auf engsten Raum. Das Geschnarche! Selbst wenn der Limes im Vergleich zur Chinesischen Mauer nur als improvisierter Lattenzaun durchgeht, Aufwand und Nutzen scheinen genau kalkuliert worden zu sein. Doch schaut euch diese Rekonstruktionen an: Palisaden - nicht mehr als mannshoch, Gräben - nur knietief, sehr fragile Erdaufschüttungen. Jedes Kind hätte solche Verteidigungsanlagen überwinden können. Ich glaube, hier wurde einfach nur beim Nachbau gespart. Da hat sich ja die arme DDR mit ihrer Mauer mehr Mühe gegeben.
Die Germanen rückten den Römern nämlich so sehr auf die Pelle, dass sie sich gegen 260 hinter den Rhein zurück ziehen mussten. Der Limesfall wurde zum Synonym für das Schicksal aller befestigten Grenzen schlechthin. Und was hat die Menschheit daraus gelernt? Die sofort nachrückenden Alemannen wussten mit den Errungenschaften vom Mittelmeer kaum etwas anzufangen, wie Wasserleitungen, Steinbauten, Beton und natürlich Schrift. Was er nicht kennt, zerstört der Mensch. So ist von der meisten römischen Infrastruktur kaum etwas übrig geblieben. Die Hungerleiter aus dem Osten konnten dafür aber umso brutaler auf andere drein hauen.
500 Jahre segensreiche Unterdrückung?

Das war einer der Hauptgründe, warum die Römer mehr und mehr Ossis ins Reich holten. Dem auf ständigen Wachstum und Expansion getrimmten Imperium fehlten damals zunehmend Arbeitskräfte und Soldaten. Die Gallier waren ja inzwischen vollkommen romanisiert und wollten die Drecksarbeit auch nicht mehr machen. Also siedelte man innerhalb des Reiches ganze germanische Volkstämme an, mit Kind und Kegel, aber auch mit Heerführern und Kriegern. Eine tolerante Willkommenskultur, die anfangs funktionierte. Sie nannten sie Föderaten, Verbündete und übertrugen ihnen nach und nach immer mehr Verantwortung. Z. B. auch die Grenzsicherung. Wen wundert es, dass sie die erste Gelegenheit nutzten, um sich die Macht unter den Nagel zu reißen. Erst kam es zum sogenannten Rheinübergang 406, wo mehrere germanische Stämme nicht nur plündernd durch Westeuropa, sondern bis Spanien und Afrika zogen. 476 letztlich kamen keinen Befehle mehr aus Italien. Der Weströmische Kaiserhof war an den Auseinandersetzungen mit seinen germanischen Heerführern zerbrochen. Offizieller Todengräber war Odaoaker, ein Thüringer. Jeder nahm sich nun in den nördlichen Provinzen, was er konnte. Die ehemals verbündeten Franken, unter der Königsdynastie der Merowinger eroberten nach und nach alle Westgebiete und wanden sich dann Richtung Osten:
Ostdeutschland in der genetischen und
 prähistorischen Teilung Europas
Erst besiegten sie die Alemannen, dann Thüringer, letztlich auch Sachsen. Es kam zum völligen Austausch der Eliten, auch wenn die Schreiberlinge und Speichellecker blieben. Was sich damals abgespielt hat, kann durchaus mit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1500 Jahre später verglichen werden. Allerdings bedeutete der Zusammenbruch damals Tausend Jahre technischen und kulturellen Rückschritt. Wer weiß denn schon, wie Handy und Co später für das Zusammenleben der Menschen bewertet werden.Das Einzige, was die fränkischen Analphabeten sofort lernten: Zur Unterdrückung braucht es eine Ideologie, damals christliche Religion genannt. Was im Westen sich schon unter den Römern etabliert hatte, gelang kaum im Osten. Ständig mussten sich die Königstreuen im Fränkischen Reich mit den aufständischen Sachsen und Thüringern herum schlagen. Der Ossi wollte sich einfach nicht den geltenden Regeln unterordnen. Mindestens 700 Jahre brauchte die Christianisierung, um auch an Elbe und Saale angenommen zu werden. Doch kaum war dort die letzte Kirchenglocke aufgehängt, meuterten schon 517 im Osten die lutherischen Reformisten. Dieser Kampf hielt die Geschicke Deutschlands Jahrhunderte lang im Bann. Die Landkarte der verschiedenen Konfessionen lässt die alte Grenze des Limes gut erkennen. Und das trotz der machtpolitischen Spielchen der Territorialfürsten. Leidtragende wie bei allen vorherigen und folgenden Kriegen: immer der Knecht.
Die Reformation als Rückfall 
in alte Zeiten??
Als die siegreichen Alliierten 1945 in Potsdam die West- und die Ostzonen festzurrten, hatten sie bestimmt nicht den Limes im Hinterkopf. Aber Geographie und Geschichte spielte den Strategen in die Hände. Zu gerne scheinen die Menschen im Osten den viel zitierten östlichen Schlendrian übernommen zu haben. Allerdings stießen sie ihn bei erster Gelegenheit auch schnell wieder ab. Bald leben wir länger in der wiedervereinigten Bundesrepublik, als im geteilten Deutschland. Trotzdem müssen die Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern immer noch thematisiert werden. Das lässt grübeln.
Z. B. warum Geschichte sich immer wiederholt, zumindest was die Mechanismen betrifft. Warum keine Grenze ewig hält, egal ob gegen Flucht oder Angriff konzipiert. Warum jedes System kollabiert, das gravierende Niveaugefälle zwischen arm und reich zulässt, egal wie perfekt die Propaganda funktioniert. Und warum zur Zielscheibe wird, wer sich zu Verantwortung überreden lässt und die freiheitlich demokratische Grundordnung mit Sendungsbewusstsein in die Welt tragen will.
Böse Zungen behaupten, die Bundesrepublik zeige Symptome wie das untergehende Römische Reich. Doch unabhängig von Gesinnung und Wohnort wissen wir wenigstens, was wir zu erwarten haben.

Freitag, 29. November 2019

Wie kommen die historischen Thüringer ins Französische Tours?

Toronen an Atlantik und "nahe der Hessen"
(Siehe gleichnamiges Video auf YouTube)
Die Region Touraine begleitet den Fluss Loire auf dessen Weg in den Atlantik. Wie in jedem französischen Gebiet, das etwas auf sich hält, wird Wein angebaut und die Geschichte von den Kelten abgeleitet. Hier soll nach römischem Bericht der gallische Stamm der Turonen gelebt haben. Und nicht wenige französische Historiker glauben, dass dieser mit den Thüringern verwandt, wenn nicht gar identisch ist.
Die Hauptstadt von Touraine ist Tours. Bauliche Spuren hinterließen in der Kommune nur Römer, Westgoten und Franken. Die Stadtgeschichte beschreibt, wie man von Arabern, Normannen und Engländern bedrängt wurde. Französische Könige sollen oft und gerne in der alten Bischofsstadt residiert haben. Von keltischen Turonen aber fehlt jede Spur. Tatsächlich jedoch existierte ein gleichnamiger Stamm der Turonen im fernen Germanien. Der griechische Geografen Ptolemäus verortete ihn nahe der Chatten im heutigen Hessen. Ein Zufall? Eine Verwechslung?
Wanderten die Kelten von den  Gleichbergen
 an den Atlantik ab?
Einige französische Forscher glauben an einen gemeinsamen Ursprung der Turonen von Loire und Werra und sehen in den keltischen Oppida auf den Gleichbergen in Südthüringen deren Residenz. Tatsächlich wurden die Höhensiedlungen im Landkreis Hildburghausen gegen 50 v. Chr. aufgegeben. Die Bewohner verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Teile der Kelten sichtete man später am Mittelmeer und am Atlantik. Selbst noch bei den von Norden nach Südthüringen nachwandernden germanischen Hermunduren sehen einige Historiker Zusammenhänge und setzen die Nachsilbe Duren mit Turonen gleich. Schließlich seien Germanen und Kelten verwandte Ethnien mit demselben indogermanischen Hintergrund, nur getrennt durch den mächtigen Rhein und die erste deutsche Lautverschiebung. Wie aus Chatten Hessen wurde, soll der Name der Thüringer aus der Abwandlung von Touroner-Turoni-Thoringi entstanden sein. Wilde Spekulationen?
Tours mit frühen Beziehungen zu Thüringen

Von all dem sieht man in Tours jedenfalls nichts. Hier konzentriert man sich wie überall auf Geschichte, die man anfassen oder lesen kann. Dazu gehört der französische Nationalheilige Sankt Martin, der Begründer des Christlichen Mönchtums und 3. Bischof von Tours. Er soll als römischer Offizier seinen Mantel mit einem frierenden Bettler geteilt haben. Seine Verehrung und Aufbahrung in Tours wurde vor allem von einem seiner Nachfolger, Bischof Gregor 200 Jahre später vorangetrieben. Und dieser wird nun wieder für die Thüringer interessant. Er war nämlich Vielschreiber und seine Bücher gelten heute als die wichtigsten Quellen für den Übergang von der Antike ins Mittelalter. Und darin spielen die Thüringer eine maßgebliche Rolle.
Gregor von Tours als Historiker über Thüringen
Nicht nur, dass Gregor von Tours die Invasionen seiner fränkischen Könige ins benachbarte Thüringer Reich en detail beschreibt, er widmet wesentliche Passagen den thüringisch-fränkischen Beziehungen. Dazu wartet er mit rührseligen, aber bezeichnenden Geschichte auf: Der fränkische Königsanwärter Childerich habe beispielsweise gegen 450 unserer Zeitrechnung 8 Jahre Exil im Thüringer Königshaus verbringen müssen. Dort verliebte sich Basena in ihn, die Frau des Thüringer Königs, und begleitete in ehebrecherisch zu dessen Krönung nach Frankreich. Gregor von Tours stand auch in Verbindung mit der Thüringischen Prinzessin Radegunde.
Schriftverkehr mit der Thüringer Prinzessin Radegunde
Diese war nach Unterwerfung durch die Franken 531 verschleppt und mit dem Sieger Chlodar I. zwangsverheiratet worden. Der soll sogar ihren Bruder eigenhändig ermordet haben! Radegunde blieb nur das Schicksal als Nonne, Wohltäterin und Heilige, was von ihrem Freund und Priester Fortunatus in Frankreich beschrieben wurde. Solche Geschichten gibt es Dutzende. Woher stammt wohl diese historisch beispiellose Verbindung von Franken und Thüringer noch im Frühmittelalter? Vergessen wir nicht, dass das heutige Franken in Bayern von Paris aus seit 531 zielgerichtet besiedelt wurde und mit Thüringen eine herzogliche Verwaltungseinheit bildete. Tours also Thüringisch? Auch dem belgischen Tournai wird übrigens eine solche Verwandtschaft angedichtet.
Die renommierte Historikerin Heike Grahn-Hoek lehnt heute jedenfalls ein linksrheinisches, also französisches Thüringerreich ab.
Radegundes Biograf: Venantius 
Fortunatus
Sie leitet aber die Herkunft der Thüringer von den Terwingen ab, einem Teilstamm der Ostgoten. Deren Brüder wiederum, die Westgoten, gründeten ja bekanntermaßen 418 an der Atlantikküste ein eigens Reich. Sie kamen 473 auch bis Tours. Die Franken erst 20 Jahre später. Schließt sich hier ein imaginärer Kreis?
Alles Quatsch, sagen andere. Die Wirren der Völkerwanderungen am Ende der Antike verlieren sich im Dunkel der schriftlosen Zeit: Und was ein Historiker nicht lesen kann, lehnt er im Zweifelsfall ab. Namensgleichheiten wie bei den Turonen gibt es mehrere, keltische Oppida zwischen Hessen und Thüringen Dutzende, Cäsar nannte die Kelten um den Thüringer Wald Volkae, für die Verbindung von fränkischen und thüringer Königsdynastien reichen schon ihre germanischen Wurzeln. Sicher ist nur: Die Römer siedelten in Tours auf einem keltischen Hügel und bezeichneten ihn als Caesarodunum - Cäsarenhügel. Die Stadt gilt von Anfang an als wichtige Kreuzung eines Nord-Süd-Handelsweges mit der Loire, wegen den hier auftretenden, leicht zu überwindenden Sandbänken. Vielleicht bezeichnet das indogermanische „Tour“ nur den entsprechend abgebildeten Reiseabschnitt, die Region Touraine nur den dazugehörigen Abhang am Fluss. Doch da sind wir schon wieder am Spekulieren.
Heike Grahn-Hoek: Wie aus Terwingen Thüringer wurden
(Siehe Post in diem Blog)

Völkerwanderung der Gothen
Flüchtige Reiche: Nur die Bewohner blieben
Heike Grahn-Hoek: Kein "linksrheinisches" Reich der Thüringer

Völkerwanderung der Volcae im Post: Als die Kelten abgezogen waren (Post in diesem Blog)
Duren in Hermunduren heute noch offizielle Lehrmeinung über die Herkunft der Thüringer

Donnerstag, 21. November 2019

„Notschreie“ aus Suhlerneundorf (von C.A.)

Im großen Nordischen Krieg von 1700 bis 1721 wurde die im 30-jährigen Krieg eroberte Vormachtstellung Schwedens im Ostseeraum vernichtet. Friedrich August I. von Sachsen u. Polen, Zar Peter I. von Rußland und Friedrich IV. von Dänemark, hatten ein Bündnis gegen den Schwedenkönig Karl VII. geschlossen und den o.g. Krieg vom Zaun gebrochen. Da Polens König Friedrich August I. auch Kurfürst von Sachsen war, wurden auch die sächsischen Länder mit Krieg überzogen.
So kamen am 25. September 1706 auch 4000 Reiter unter dem schwedischen Obristen Görtz nach Suhl und nahmen 1790 Flinten, 214 Karabiner und 516 Pistolen als Kriegsbeute mit. Obwohl die Suhler dem schwedischen Befehlshaber erklärten, dass ihre Stadt nicht zum Kurfürstentum Sachsen, sondern zu Sachsen-Naumburg-Zeitz gehöre, half ihnen das nichts. Die Stadt musste sogar noch 2050,- Reichstaler Kriegssteuer bezahlen.
Besonders schwer wurde Suhlerneundorf heimgesucht, wie aus einem Brief vom 1.10.1706 des Schultheißen Michael Schlegelmilch von Neundorf an den Herzog Moritz Wilhelm zu Sachsen-Naumburg-Zeitz hervor geht. Er schreibt u.a.:

„Euer Hochfürstlicher Gnaden wird ohne Zweifel schon hinterbracht worden sein, daß der schwedische Oberst Görtz mit einer Partei zu Pferde nach Suhla gekommen und allda etliche Tage mit der Truppe still gelegen, wobei uns arme Suhlerneundörfer das Unglück betroffen, daß die Feinde, welche auf 500 Mann und 600 Pferde stark, sich in unserem Dorf einquartiert und übel mit uns umgegangen ist.
Das Dorf ist klein und arm, und doch sollte es 600 Pferde und 500 Man unterhalten, welche mit dem Bier und Fleisch, das wir liefern konnten, nicht einmal zufrieden waren. Wir müssen gestehen, daß wir nicht genügend hatten, sondern deswegen zu Schleusingen, bei dem Amt, zu dem wir gehören, um Hilfe suchen mußten. Allein es konnte uns weder mit Hafer, Bier, Fleisch noch Brot geholfen werden. Da nahmen wir Zuflucht zu dem Amt Suhl und verlangten von dem selbigen dergleichen. Es wurde uns abgeschlagen und wurden an unser Amt verwiesen, wiewohl uns doch die Suhler mit etwas Hafer, Fleisch und Brot geholfen haben. Von unserem Amt ist uns gar keine Hilfe widerfahren und weil wir nun die Soldaten auch mit dem Nötigsten nicht versorgen konnten, wurde von uns desto mehr gefordert und wir noch übler gehalten. Sechs Nachbarn sind deshalb fortgezogen und unser weniges Getreide wurde uns genommen. Von den Getreidehalmen auf dem Felde wurden die Körner abgeschnitten, um damit Pferde zu füttern. Die Soldaten waren über alles hergefallen.
Ein Schaden von 811 Gulden, 20 Groschen, 2 Pfennige ist festgestellt worden, ohne was in Gärten und Häusern verderbt worden ist. Wir sehen keinen Lichtblick, haben keine Mittel, wie sich unser Dorf wieder in etwas erholen könnte, wenn uns nicht von der Regierung ein Beitrag gegeben wird und wenn es nicht zum Amt Suhl, welches uns am nächsten gelegen und wo wir bei vorfallenden Gelegenheiten am ersten Hilfe haben können, geschlagen werden.
Das Entlegensein des Amtes Schleusingen verursacht viele Kosten; doch müssen wir rühmen, daß Recht und Gerechtigkeit uns von dem selben widerfahren ist. Ew. Hochl., unser Gnädigster Fürst und Herr wolle keine Ungnade auf uns werfen, wenn wir bei diesen Umständen um eine Gnade untertänigst ersuchen und flehen untertänigst, es wolle die Regierung befehlen uns vom Land Henneberg ein Beitrag gezahlt werden möchte, und sodann-uns die Gnade erzeigen, damit unser Dorf zum Amt Suhl geschlagen werden möge.“

Ob der Notschrei des Suhlerneundörfer Schultheißen Erfolg gehabt hat, darüber berichten die Archivakten nichts. Sie melden nicht, ob die Gemeinde von der Herzoglichen Regierung oder vom Amt Schleusingen den Schaden von 811 Gulden, 20 Groschen, 2 Pfennige ersetzt bekommen hat. Das Dorf ist bis 1815 beim Amt Schleusingen geblieben. Nachdem unsere Region an Preußen fiel, wurden die bisherigen Ämter Schleusingen, Suhl, Kühndorf und Benshausen zum Kreis Schleusingen zusammengefasst. Suhl- Neundorf blieb so auch weiterhin mit Schleusingen verbunden. Nach 1945 wurde das Dorf nach Suhl eingemeindet und wird nun Suhl-Neundorf genannt. Der Kreis Schleusingen wurde, nachdem schon 1928 in Suhl neue Gebäude für die Kreisverwaltung gebaut worden waren, aufgelöst und Kreis Suhl Land genannt.

Eine alte Chronik von Suhl-Neundorf berichtet u. a. außerdem folgendes:

Es wird berichtet, dass am 2. Juni 1738 über unser Dörflein ein sehr starkes Gewitter zog, welches ungeheuer viel Regen brachte, wie es seit Manns Gedenken hier nicht gewesen ist. Während des schlimmen Wütens kamen auch die Bauern von den Feldern nach Hause. In dem schlechten wasserreichen Aspenwege waren Werner Schlegelmilch mit 2 Wagen und 7 Ochsen, Caspar Zimmermann mit ein Wagen und 4 Ochsen, Johann Adam Heym mit ein Wagen und 3 Ochsen und Michael Dähn mit 1 Wagen und 3 Ochsen. Das Wasser der Aspenhöhle war bereits bei drei Ellen gestiegen und es kam mit solcher Macht angeschossen, daß es sämtliche Wagen und Ochsen zurücktrieb bis zur Mühle, wo das Mühlwasser raus gehet. Die Bauern konnten sich retten, aber Wagen und Tiere lagen dort wirr durcheinander. Es sind drei 3 Ochsen von Werner Schlegelmilch und 1 Ochse von Joh. Caspar Zimmermann ersoffen, die Wagen waren bis auf einen sämtlich arg mitgenommen.
Am 22. Juni 1738 ist die Brücke beim Armenhaus verdingt worden. Welche die hiesige Gemeinde und die Stadt Suhl gebaut haben zu gleichen Teilen. Dieselbe kostete insgesamt 27 Reichstaler, 3 Batzen.
Nach der Schlacht bei Jena und Auerstädt von 1806, sind die Gefangenen und Blessierten (Verwundeten) zu Tausenden abtransportiert worden. In Suhl haben auch eine große Anzahl Kranker zur Kur gelegen, und zwar aus unserem Ort Georg Christoph Schlegelmilch, Lorenz Schlegelmilch, Fritz, sein Sohn, der mit einer gehackten Kugel am Dickbein verwundet worden war, wurde hier ausgeheilt.
Nachdem im Dezember 1806 den Preußen die Kanonen durch Napoleon abgenommen worden sind, mußten die Hessen und die Henneberger Bauern Vorspann leisten bis nach Schweinfurt. Da hat Sühler-Neundorf auch 66 Stück Ochsen mit zur Anspann müssen geben und Suhl auch viel.
Den 16. August 1807 ist in Wiedersbach ein Brandunglück entstanden. Es sind vom Feuer 5 Häuser und 5 Stadel vernichtet worden. Da hat jede Gemeinde nach ihrem Vermögen einen freiwilligen Beitrag geleistet. Unser Ort gab 6 Taler, 6 Groschen gut Geld. Mehr konnte nicht gegeben werden, weil die Nachbarn aus ihrem eigenen Vermögen ein Stockwerk auf das Schulhaus gebaut hatten.

Im Jahr 1806, den 4. September, suchte der Schullehrer Georg Michael Furch um eine Umtauschung des Schulrodes nach, welches mit Büschen und Ameisenhügel, verwachsen war. Das geistliche Untergericht endlich brachte es soweit, daß 1811 an der „Wanne“ das Schulland geschaffen wurde und bereits am 21. April 1812 war es versteint und gereinigt. Es war gefordert, daß die Versteinerung und Reinigung der Lehrer Furch selbst tragen sollte. Das Konsistorium aber verlangte die Kosten von der „Heilige“. Da der Heiligenkasten aber stets recht mager war, so besorgten die Nachbarn der Gemeinde die Urbarmachung selbst. Es haben dieselben ohne Ausnahme zwei Tage gearbeitet. Es haben 221 Personen daran gearbeitet, männliche und weiblich, und haben nicht die Hälfte urbar gemacht. Der Lehrer Furch hat Korn und Erdäpfel darauf angebaut.
Im Jahre 1814 wurde dem Schullehrer ein Backofen bewilligt. Derselbe hat gekostet 20 Taler, 8 Groschen, 16 Pfennige. Ist ein wenig viel für einen Backofen von Lehm, schreibt der Chronist.

1833 wird in die Chronik eingetragen:

„Im vorigen Jahre und in diesem Jahre hatten wir eine trockene Witterung, wie sich nicht leicht wenige Menschen erinnern. Diese Trockenheit erstreckte sich beinahe durch ganz Europa. Man klagte über Mangel an Regen nicht bloß in Nord- und Mitteldeutschland, sondern auch in Frankreich, Dänemark und Rußland. Das Getreide auf dem Felde und das Gras auf den Wiesen litten sehr. Diese Trockenheit ist in diesem Jahre noch empfindlicher und nachteiliger als im vorigen Jahr. Weil bei uns schon die großer Hitze seit dem 2. Mai eingetreten ist und bis Ende Juni fortgedauert hat. Auf sandigen Feldern haben daher alle Getreidearten sehr gelitten, ja manche sind fast verdorrt. Im lehmigen Boden steht das Wintergetreide fast im Ganzen gut, nur trifft man Felder an, wo der Roggen sehr flache Körner hat und vor der Zeit reif wird. Aber wie sieht es in der Auengegend und auf Feldern mit nassen Böden aus ? Hier erblickt man das Wintergetreide in einem trefflichen Zustande, es hat lange Ähren und dicke Körner. Eben diese Gegenden liefern in trockenen Jahren Ersatz für das, was auf den trockenen fehlt. Sie ergaben reiche Ernten und ersetzen den Ausfall auf den letzteren. Daher treten wohl höhere Preise aber keine größeren Teuerungen ein. Auch stehen bis jetzt die Kartoffeln sehr gut und ob es schon sehr an Futter für das Vieh gebricht und die Heu-, sowie die Grummeternte sehr schlecht ausfällt, so werden doch noch immer genug Kartoffeln für die Menschen übrigbleiben, wenn auch das Vieh viel verzehren sollte. Man baut jetzt alle Jahre weit mehr Kartoffeln und sie ersetzen was hier und da an Getreide fehlt.

Sag ich doch: Die Kartoffel macht es.


Quelle: Henneberger Heimatblätter Nr.10a/1923

Montag, 11. November 2019

Einführung in die hier verwendeten Prinzipien der Altstraßenforschung

Bekannte mittelalterliche Altstraßen:
verwendet seit spätneolithischer Zeit?
Dieser Beitrag hier wurde nur geschrieben, um die vielen in diesem Blog untersuchten Altstraßen zusammenzufassen (Siehe Seitenleiste).

Seit 25 Jahren erforsche ich das urzeitliche Wegesystem und das Siedlungsverhalten in Europa. Was als Hobby begann, führte mich zu Erkenntnissen, die ich noch nie bei anderen Geografen, Archäologen oder Historikern gelesen hatte: So scheinen nicht nur mittelalterliche Heere und Händler immer wieder auf die gleichen Trassen zurück gegriffen zu haben, sondern auch die antiken Völkerwanderungen, die frühen Metallurgen, ja selbst die ersten Bauern.
Das Geheimnis solcher seit vielleicht 7000 Jahre wiederverwendeten Verkehrsstränge muss im geografischen Potential der wasserscheidenden Kammwege liegen. Ihre sinnfällige Verknüpfung scheint bis ins Frühmittelalter der gängigste Weg gewesen zu sein, um von A nach B zu gelangen. Das können die Höhenwege der Mittelgebirge oder unscheinbare Erhebungen im Flachland sein. Kurz oder lang, auf schmalen Stegen oder variantenreichen Hochebenen. Die Wasserscheiden dienten natürlich nur als Orientierung: Wenn sie in eine andere als die gewünschte Richtung führten, musste man mit der Querung von Wasserläufen eine neue Höhe suchen. So scheinen die meisten Siedlungen aus Furten an den Flüssen entstanden zu sein. Hohlwege und "Leiten" zeigen die Auf- und Abstiege zu ihnen an.
Solche "Schlängellinien zwischen den Quellen entlang" liefern die meisten archäologischen Denkmale und Funde von megalithischer Zeit bis ins Frühmittelalter, verknüpfen sich über Furten mit frühesten Siedlungen zu einem regelrechten prähistorischen Wegenetz, und spätestens alle 20 Kilometer - dem Tagespensum eines Ochsenkarrens - tauchen zeitgemäße Höhenbefestigungen zur Sicherung und Versorgung der Reisenden auf.
Auf welchen Pfaden lustwandelten die Menschen
der bekannten Völkerwanderungen?
Ich habe bei meinen Untersuchungen keine Ausnahme gefunden. Sogar fast alle der bekannten mittelalterlichen Altstraßen wie die Via Regia oder die Heidenstraße funktionieren nach diesem Prinzip. Selbst die Lücken der bestens erforschten Römerstraßen lassen sich mit ihnen schließen. Die längste noch heute gängige Fernverbindung auf unserem Kontinent ist die Europäische Hauptwasserscheide von Gibraltar bis zum Ural mit ihren zwei wichtigsten „Abkürzungen“ an den Ausschlägen zu den Quellen von Ebro und Rhein (früher Hauptstrang der Höhenvariante des Jakobsweges). Sicher gab es auch viele andere urzeitliche Wege, aber die Wasserstraßen scheinen die meisten Anhaltspunkte zu liefern und damit einige Sicherheit bei Orientierung und Erforschung. Ihre Nutzung sollte auch mit den Klimaschwankungen korrelieren. Höhensiedlungen und -wege scheinen nicht nur der Sicherheit wegen angelegt worden zu sein, sondern auch, weil es zumindest partiell keine Alternative gab.
Hintergrund dieses strategischen Musters scheint das Zusammenspiel von fortschreitender Siedlungsentwicklung, klimatischen Umbrüchen und vor allem das immer gleiche technische Knowhow der Fortbewegung zu sein. Seit den ersten Wagenkarren um 3500 v. Chr. bis zur ersten Dampfmaschine im 19. Jahrhundert wurden Zugtiere als Antrieb eingesetzt. Bis zu den Römern muss fast jede Bewegung auf unbefestigtem Gelände stattgefunden haben. Wer je auf einem Leiterwagen mit Pferden oder Ochsen durch freies Gelände kutschiert ist, weiß, was dabei geht. Auen und Täler sollten vor klimatischer Austrocknung und Melioration viel zu versumpft gewesen sein, um durchzukommen.
5000 Jahre das gleiche Prinzip
Trockenes, vor Überfällen sicheres und vor allem schnelles Reisen war nur möglich, wenn man sich zischen den großen und kleinen Gewässern hindurch schlängelte. Kein ewiges Auf und Ab, keine Umwege! Bloß in den Hochgebirgen musste man auf die Talränder zurück greifen. Dieses Prinzip führte über die Jahrtausende zu Zwangsführungen und an den großen Flussübergängen zu Zwangssiedlungen, die noch heute unsere urbane Struktur bestimmen. Selbst Abweichungen fügten sich in dieses System, wenn z. B. Bodenschätze erschlossen werden sollten, wie Metalle, Salz, Bern- und Feuerstein, oder - nicht erst seit den Römern - politische Grenzen Einhalt geboten. Diese Struktur wird durch die vielen gleichlautenden Flur- und Ortsbezeichnungen überall untersetzt. Auch die immerwährende Nachnutzung von Weg und Station zieht sich wie ein roter Faden durch die Siedlungs- und Verkehrsgeschichte Europas. Natürlich gab es ständig auch Veränderungen, Ausnahmen, Irrungen, Experimente, Abkürzungen, neue Zwänge. Tausende Jahre Überformung der Landschaft lassen meist nur noch die Orientierung an Korridoren zu.
Keltensiedlung Staffelberg: 
Aus einer frühen Wegesicherung 
entstanden?
Überraschend oft aber zeigen Hohlwege, Straßennamen und schmale Kammwege den „haar“-genauen Verlauf. Die langsame Verlagerung der Wege ins Tal ab 1000 v. Chr. etwa ist gut nachzuvollziehen. Aber immer, wenn sich die Verkehrsführungen veränderten, hatte das Auswirkungen auf die Siedlungen: Wüstungen, vergessene Befestigungen und Stillstand in der Entwicklung einer Stadt beispielsweise sprechen ein beredtes Bild.
Mit dieser Wasserscheidentheorie lassen sich nicht nur Ortsgründungen in vorschriftliche Zeit verlegen, sondern auch Voraussagen für archäologische Funde machen. Manch unbedeutendes Kaff kann sich so leicht als frühmittelalterlicher Handelsknoten entpuppen. Als ich vor Jahren den Erzgebirgskammweg der Bronzezeit zuordnete, wurde ich von den Historikern verlacht. 2018 fand man die entsprechenden Bergwerke bei Altenberg. Dabei ist so etwas nicht schwer, muss man nur die Hypothese der Höhenwege verinnerlichen. Die indogermanischen Flurnamen beispielsweise weisen oft in eine Zeit nach 1200 v. Chr., die meisten unverständlichen Worte ins Alte Europa davor. Die vergleichende Archäologie führt uns zu historisch typischen Geländedeformationen der frühesten Höhensiedlungen, auch ohne aufwendige wissenschaftliche Grabungen.
Alle in diesem Blog behandelten Urwege werden als 
interaktive Karten bei Google Maps dargestellt
Umgekehrt kann man von zeitlich bekannten Umbrüchen des Siedlungs- und Bestattungsverhaltens unserer Vorfahren auf konkrete extreme Umweltveränderungen und Völkerbewegungen schließen. Unantastbare Lehrmeinungen zu archäologischen Themen scheinen in diesem System einer völlig neuen Bewertung zu harren: Genetische Triften, Völkersymbiosen, Großsteinanlagen, Feldterrassen, Menhire, und Steinkreuze. Sogar antike Mythen erscheinen in einem neuen Licht. Klappert man deutschsprachige Flur- und Ortsnamen nach einem Wegebezug ab, scheinen diese ganz Mitteleuropa zu dominieren. Das Prinzip, wonach erfolgreiche Gemeinwesen früh klimatisch begünstigt waren, scheint sich durchgesetzt zu haben. Ich behaupte, sie waren auch geografisch determiniert. Es könnte sogar sein, dass noch eine geologische Komponente über die globalen Naturkatstrophen hinzukommt, aber dass ist schon wieder ein anderes Thema.

Samstag, 26. Oktober 2019

Geschichte von 1815 bis 1900 am Beispiel der Stadt Suhl (von C.A.)


Suhl: im Zentrum Europas oder am A... der Welt?
Es gibt stille, verträumte Meeresbuchten, deren Wasserspiegel sich nur im Winde kräuselt, wenn draußen auf dem Ozean die Wellen der Hochsee stürmisch dahin rollen. Wenn aber die Meereswogen mit Wucht auf den Strand treffen, dann lassen sie meist nur Trümmer zurück.
Nicht anders verhält es sich mit der Geschichte vieler Landschaften, kleiner Städte und Ansiedlungen, die abseits der großen Straßen liegen. So unterbrechen dann schwarze Tage, die beschauliche Ruhe einer Region, einer Ortschaft, indem die Weltgeschichte mächtig über sie hinweg geht. So auch am St.- Gallus-Tag 1634 in Suhl, als die Kroaten die Stadt abgebrannt haben. Solche Tage bilden Marksteine in der Lokalgeschichte. Der Chronist unterbricht die Aufzeichnungen des Alltagsgeschehens, um solche Taten für die Geschichte festzuhalten.
In diesem Aufsatz ist der Ausgangspunkt für die Geschichte der Stadt Suhl die Zeit der Befreiungskriege. Von allen kämpfenden Staaten hatte Suhl Truppen in seinen Straßen gesehen: Franzosen, Rheinbündler, Preußen und Russen. Sogar das russische Hauptquartier unter Kaiser Alexander hatte zeitweise in Suhl Quartier bezogen. 30 Suhler hatten zudem im sächsischen Kontingent bis zur Schlacht von Leipzig unter der französischen Flagge gekämpft. Der Friedensvertrag löste nun nach langen Verhandlungen in Wien, die Region um Suhl und Schleusingen aus dem sächsischen Staat heraus und schlug sie dem jungen, aufstrebenden Staat Preußen zu.
Erbsymbol: Franken, Henneberger
und Sachsen
Fast 250 Jahre hatte Henneberg zu Sachsen gehört, das aber mit diesem Gebiet, das von seiner Herkunft her fränkisch war, nichts Rechtes anzufangen wusste. Wesensfremd musste auch den Menschen in der Region der neue Staat erscheinen. Nichts verband sie mit dem Staat der norddeutschen Ebene, der nunmehr auf den Südhang des Thüringer Waldes Fuß fasste. Aber schnell hatten die Einwohner hier, die bisher behaglich auf dem sanften Kissen des alten Herkommens geruht hatten, das frische Leben dieses neuen Staates angenommen.
Schnell wurde das Gerichtswesen dem preußischen Vorbild angepasst und die Verbindung von staatlichen und kommunalen Verwaltungsbehörden mit der Justiz beseitigt. Es galt fortan das preußische Landrecht und zum Entsetzen der Menschen erlebte man die Einführung der allgemeinen in Preußen geltenden Wehrpflicht. Es verschwanden auch die Steuer-, Laub-, Kronen-, Spezistaler, die Schleusinger oder Suhler Bauruten, Metzen, Achteln, die Suhler Ohm und Eimer, und man musste sich daran gewöhnen, nach preußischem Münz-, Maß- und Gewichtssystem zu rechnen. Wenig beliebt waren auch die neuen preußischen Steuern, die Suhl als eine wohlhabende Stadt auferlegt wurden.
In der Tat erfreute sich Suhl mit seinen damals 5685 Einwohnern eines recht ansehnlichen Wohlstands. Gab es doch schon seit Jahrzehnten Krieg in aller Welt. Daher waren Waffen gefragt und der neue Landesherr war darauf bedacht, die weit und breit bekannte, ja in aller Welt berühmte Suhler Waffenindustrie zu fördern.
Von der gut florierenden Waffenproduktion profitierte auch die Stadt Suhl selbst. So konnte man endlich ein schon vor Jahren begonnenes Werk zu Ende führen. Am 28. September 1817 wurde das obere Rathaus eingeweiht, das seit dem Brand 1753 in Schutt gelegen hatte. 1820 entstand auch der neue Marktbrunnen, der 600 Taler kostete und von dem man hoffte, dass er Hunderte von Jahren stehen würde. Der Wunsch ging allerdings nicht in Erfüllung.
Heimkehr der Freiwilligen...
Sujet von 1833, M.D.Opperheim
Bestehen blieb unter all den Neuerungen die alte Stadtverfassung. Es blieb damit zunächst der von der Behörde der Stadt eingesetzte Justizamtmann v. Schellwitz auch als Bürgermeister im Amt. Neben ihm stand der auf Lebenszeit gewählte Rat von 12 angesehenen Bürgern. Sie wurden vertreten durch den Bürgermeister, den vier Gemeindevormündern und den fünf Viertelsmeistern. Aber nur die Einwohner, die das Bürgerrecht besaßen, durften wählen. Die anderen waren die „Mietlinge“ oder „Hintersättler,“ die kein Anrecht auf Gemeindenutzungen hatten, dafür aber von gewissen Lasten befreit waren, wie z.B. die Pflicht Nachtwache zu halten. Erst 1838 wurden festbesoldete Nachtwächter eingestellt. Sie bekamen im Jahr 26 Taler, 24 Silbergroschen und 7 Pfennige.
Suhl war zu dieser zeit noch eine kleine, vom Verkehr und der Politik weitab liegende Stadt, in der neben den Gewerken aber auch noch viel Landwirtschaft betrieben wurde. Ruhig und friedlich verlief der Alltag. Die Folgsamkeit gegen König und Obrigkeit, hatte der letzte kursächsische Aufsichtsbeamte der Region, Freiherr von Seckendorff, als einen schönen Zug des hennebergischen Nationalcharakters gepriesen. Etwas von der Müdigkeit, die das ganze deutsche Bürgertum nach den schlimmen Jahrzehnten überkam, war auch in Suhl anzutreffen.
Nur die Webergesellen machten mit einem Tumult 1823 von sich reden, als sie einen Berufsgenossen gewaltsam aus der Fronfeste (Gefängnis) befreien wollten. Nichts hören wir aber sonst von einer Teilnahme an den allmählich einsetzenden geistigen Bewegungen des Bürgertums, die auf mehr Mitspracherecht abzielten. Man schickte zwar einen Abgeordneten, den Senator Nicolas Ruck, in die bald als unzulänglichen erkannten Provinzialstände nach Merseburg, erfuhr aber von all den Revolutionen in Frankreich, Belgien, Polen und Sachsen lediglich aus der Zeitung.
Die meisten Einwohner waren damals noch mit der
Landwirtschaft verbandelt
Wichtiger war den Vorfahren vielmehr die Ausfälle bei den Ernten. Besonders die Kartoffelernte spielte das ganze Jahrhundert hindurch in allen Berichten eine wichtige Rolle. Denn Suhl lag noch immer sozusagen „aus der Welt“. Seine Zugangswege waren bei allen Fuhrleuten gefürchtet. Ein Fuhrwerk soll, so wird berichtet, für den Weg von der Stadt bis zum Fröhlichen Mann, oft einen ganzen Tag gebraucht haben. So blieb die Stadt auf sich und die nächste Umgebung angewiesen. Fiel die Ernte schlecht aus, dann hatte es große Schwierigkeiten Nahrungsmittel aus reicheren Gebieten herbei zu schaffen. Darum rühmte man auch in Suhl lange Zeit den Kommissar bei der Gewehrprüfungskommission, Baron v. Kurowski-Eichen, genannt Erbsenbaron, dem es gelang im Hungerjahr 1817 Hülsenfrüchte für Suhl zu besorgen.
Die preußische Straßenpolitik war es endlich, die Suhl einen besseren Anschluss an die große weite Welt verschaffte. Preußen, das auf die Beseitigung aller innerdeutschen Zölle hinarbeitete, brauchte eine Straße über den Thüringer Wald hinüber nach Franken und weiter nach Bayern und Württemberg. Gaben sich doch die mitteldeutschen Staaten die größte Mühe den natürlichen Austausch zwischen Nord und Süd durch hohe Zölle zu unterbinden. Durch Verhandlungen mit Sachsen-Coburg-Gotha kam aber eine Einigung über den Bau einer zollfreien Straße nach dem Süden zustande. Es ist die Straße von Gotha über Oberhof, Zella-Mehlis, Suhl, Schleusingen, Hildburghausen nach Coburg. In Zella zweigte eine Straße nach Meiningen ab. Im Dezember 1829 wurde das Stück von der Struth bis zum Friedberg begonnen. 1831 konnte es dem Verkehr übergeben werden. Suhl gewann erst jetzt die Möglichkeit, seine Erzeugnisse ohne Zölle aus- und andere Waren einzuführen.

Auch konnte die Postverbindung auf je zwei wöchentlich verkehrende Schnellpostkutschen und zwei Fahr- und Reitpostler gesteigert werden.
Nach der revidierten preußischen Städteordnung wurde im Jahr 1831 auch in Suhl die städtische Selbstverwaltung eingeführt, die bis 1851 gültig blieb. 18 Stadtverordnete, zwei besoldete und zwei unbesoldete Magistratsmitglieder wurden gewählt. Bürgermeister wurde Justiz- Kommissar Moritz August Weiß aus Dresden, mit einem jährlichen Gehalt von 700 Talern und freier Wohnung.
Jahre friedlicher Entwicklung folgten. 1831 wurde in Suhl eine Straßenbeleuchtung mit 70 Lampen installiert. In jedem Monat wurden die Öllampen jedoch 10 Nächte nicht angezündet, weil dann der Mond die Beleuchtung übernahm.
Still verschwand 1838 das Bergamt aus Suhl. Ein uralter Erwerbszweig, der Bergbau, war aufgegeben worden, der einst den Ruhm und die Grundlage für die Waffenindustrie begründete. Die nun weiter ausgebauten Verkehrswege, die einen leichteren Bezug von Eisen von außerhalb ermöglichten, aber auch ein bestimmter Holzmangel, ließen die nur noch wenig Gewinn abwerfenden Bergwerke eingehen.
Ansicht Suhls (die und weitere von German Hunting Guns)

Eine andere wichtige Industrie folgte: Die Barchent - und Kattunweberei. .Jedoch wurde durch die Kontinentalsperre die Rohstoffzufuhr erschwert. Die heftigen Zollkämpfe nach den Befreiungskriegen nahmen ihr, besonders durch das unfreundliche, preußenfeindliche Verhalten Kurhessens, auch noch das Hauptabsatzgebiet am Niederrhein. So ging die Zahl der Webstühle dauernd zurück und 1831 arbeiteten in Suhl nur noch 282 Stück, Viele Weber erschienen bald in den Unterstützungsverzeichnissen der öffentlichen Wohlfahrtspflege. Es war die Zeit, in der auch der mechanische Webstuhl in Deutschland Einzug gehalten hatte. Besonders in Sachsen entstanden nun moderne und große Webereien. In Suhl aber misslang trotz mehrfacher Versuche die Umstellung auf die neue Technik und Fabrikationsmethode.
Auch die Art der Herstellung von Waffen entsprach bald nicht mehr dem industriellen Fortschritt. Die in der ganzen Stadt zerstreute handwerksmäßige Anfertigung der Waffen machte große Schwierigkeiten So ließ das preußische Interesse an der Erhaltung und Förderung der Suhler Waffenindustrie merklich nach und die Staatsaufträge gingen zurück. Nur wenn irgendwo in Europa ein Unruheherd entstand, wusste man wo Suhl zu finden war und mit Tempo setzte die Militärwaffenerzeugung wieder ein. Das ganze Jahrhundert hindurch wechselten sich Zeiten mit großen Arbeitsaufträgen und Zeiten schwerer Arbeitslosigkeit und schlimmer Not ab. Ein Wesenszug der Waffenproduktion, der ihr noch lange anhaften sollte.
Wappenkunde: Suhl von Schuh-sohle!!!

So bot Suhl kein erfreuliches Bild in jenen Jahren auch unter den Preußen. Es war auch eine Zeit der Neuorientierung für ganz Deutschland, die Industrialisierung erlebte einen weiteren Schub. Die neuen großen Industriezentren fingen an, in der Nähe und Nachbarschaft von Kohle und Eisen, mit Hilfe der modernen Verkehrsmittel ihre wirtschaftliche Macht zu entwickeln. Suhl aber lag abseits der neuen deutschen Verkehrszonen und nur die unregelmäßig einlaufenden Staatsaufträge vermochten noch eine Zeitlang über die Verschiebung der wirtschaftlichen Lage hinwegzutäuschen.
So nahte das Sturmjahr 1 8 4 8 heran. Gerade um Suhl hatte man nach den stürmischen Tagen in Berlin ernste Bedenken. War es doch wegen der Getreideverteuerung bereits im Jahr zuvor zu einem Sturm auf zwei Mühlen gekommen. Besonders aber fürchtete man sich, dass Suhl eine Art Waffendepot für Aufständische werden könnte. Aber wegen der für dieses Jahr eingegangenen Staatsaufträge und der damit verbundenen guten Beschäftigung, blieb es in Suhl ruhig. Auch die zunächst sehr zahlreich besuchten stürmischen Volksversammlungen verloren im Laufe des Jahres merklich an Interesse.
Im nächsten Jahr waren die Staatsaufträge erfüllt und die Arbeitslosigkeit und Not setzte wieder ein. Die Zahl der Gewehrarbeiter ging von 774 auf 390 zurück. Es begann die Auswanderung vieler Familien nach Amerika. Suhl verlor in den folgenden Jahren fast 1000 Einwohner. Damals erwarb sich der Kreisgerichtsrat Keferstein als Wohltäter Suhls, große Verdienste um die arbeitslose Bevölkerung der Stadt. Noch heute wird er mit einer Tafel am Domberg geehrt.
Unter der Unruhe und Sorge der Zeit ging auch die Neuordnung der städtischen Selbstverwaltung einher. Nach dem Gesetz vom 11. März 1850 und dessen Abänderung vom 30. Mai 1853, war es dann bis in den 1. Weltkrieg hinein gültig Diese Änderungen in der Stadtverwaltung erfolgten ohne großes Interesse der Bürger. Ja, das Interesse an öffentlichen und städtischen Belangen war so gering, dass im Jahr 1856 von 532 eingetragenen Wählern, gerade 4 ihr Wahlrecht ausübten.
Suhler Waffen: Markenzeichen und Unheilsbringer

Ständig stiegen die Anforderungen, die an die Stadt gestellt wurden, gleichzeitig gingen die Einnahmen zurück. Dazu kam eine Reihe schlechter Ernten. Die überhand nehmende Straßenbettelei in Suhl rief den Armenpflegeverein ins Leben. Vorübergehend brachte der Krimkrieg Nachfrage nach Waffen, weil auch ein großer europäischen Krieg möglich war. Sogar Belgien kaufte Gewehre in Suhl. Aber noch immer gab es Auswanderungen nach Übersee. Daneben gingen viele Suhler nach Sachsen in die entstehenden Zuckerfabriken oder in die Landwirtschaft, auch in weiter entfernteren Gegenden. Mit dem österreichisch - sardinischen Krieg begann für Suhl eine bessere Zeit. Vor allem aber brachte der Krieg der Nordstaaten in Amerika gegen die Südstaaten, die zur Aufhebung der Sklaverei gezwungen wurden, von 1861 an eine fieberhafte Tätigkeit. Agenten deutscher, englischer und französischer Exporthäuser erschienen in Suhl und rissen sich um die fertigen Gewehre. Anschließend zwang die sich abzeichnende Spannung zwischen Preußen und Österreich die deutschen Mittelstaaten, ihre Waffenbestände zu ergänzen und gute Aufträge nach Suhl zu geben.
Für die Suhler Eisenhütte kam allerdings das Ende. Der Mühlwiesenhammer und der Lauwetterhammer wurden zu Porzellanfabriken umgebaut. Auch der Weberei ging es schlecht. 60 bis 80 Weber wurden von der Stadt unterstützt, die Auswanderung hörte dadurch aber nicht auf. Im Waffengang mit Dänemark 1864, wurden in Suhl nur wenige Gewehre eingekauft, das lähmte auch die Kauflust der Bürger.
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Für Suhl brachte das Jahr aber eine große Neuerung . Die 80 Lampen der Straßenbeleuchtung wurde auf Gas umgestellt. Ein Herr Theodor Weigel aus Arnstadt hatte eine Gasfabrik erbaut, die später von der Thüringer Gasgesellschaft übernommen wurde. Von neuem lähmte der Krieg mit Österreich 1866 die Wirtschaft. Nur langsam gewann man auch in Suhl Zutrauen zur Politik Bismarcks, die schnellen Siege brachten den Umschwung.
Mit Kriegsausbruch hatte Preußen seine Aufträge in Suhl zurückgezogen, weil es seine entlegene Waffenwerkstätten nicht wirksam schützen konnte. Und in der Tat besetzten am 30 Juni 1866 feindliche bayerische Truppen den ganzen südwestlichen Teil des Kreises Schleusingen bis zur Linie Steinbach, Breitenbach, Suhl und Benshausen . Suhl war besetzt von einem Bataillon Infanterie, eine Eskadron Reiter und einer Artillerieabteilung. Sie blieben bis zum 2. Juli morgens. Nach Eintreffen der Nachricht von der Niederlage der Hannoveraner, bei Langensalza, denen sie zu Hilfe kommen wollten, zogen sie in Richtung Meiningen und Schleusingen wieder ab.
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Die eingezogenen Suhler machten den Feldzug vorwiegend bei den preußischen Regimentern 31 und 71 sowie bei den 4. Jägern mit. Drei fielen im Kampf, vier starben an der Cholera, die die heimkehrenden Soldaten auch mit in die Heimat brachten. In Suhl erkrankten 39 Bürger, von denen 18 starben.
Die nach 1866 einsetzende deutsche Einigungspolitik brachte Suhl wieder gute Geschäfte. Das Land Baden, das damals schon gerne dem Norddeutschen Bund beigetreten wäre, bewaffnete sein Heer nach preußischem Muster.
Das Großherzogtum Hessen musste notgedrungen Preußen Gefolgschaft leisten und beide Staaten brauchten neue Waffen. Die Unzulänglichkeiten dieser Staatsaufträge hatte man aber längst erkannt. Regelmäßig folgten den Jahren der relativen Vollbeschäftigung eine traurige Periode der Arbeitslosigkeit. Die Arbeiterschaft war in einer ständigen Unruhe. Immer wieder wanderten Büchsenmacher aus. Nicht nur im Jahr 1877 kam es vor, dass 60 Waffenarbeiter auf einmal nach Russland auswanderten. Suhl schuf sich so im Ausland seine eigene Konkurrenz.
Vorbedingungen für eine bessere wirtschaftliche Grundlage Suhls musste zunächst einmal der Anschluss an das Eisenbahnnetz sein. Seit 1862 waren Bestrebungen im Gange, Suhl eine Bahn nach Grimmenthal zu verschaffen. Die Süddeutsche Bahngesellschaft, die die Werrabahn betrieb, war auch nicht abgeneigt. Ein Waggon Kohle von Dortmund bis Grimmenthal kostete 110 Mark Fracht. Die Anfuhr aber von Grimmenthal nach Suhl mit Fuhrwerk 72 M, bei schlechtem Wetter auch mehr. Man rechnete für Suhl und Umgebung eine Frachtersparnis von 23330 Talern jährlich aus, die in der Hauptsache die Lebensmittelzufuhr, auf die Suhl angewiesen war, betraf. Da kam der Krieg 1870/71 dazwischen. Suhl hatte wieder 9 Gefallene zu beklagen. Ihnen und den Toten von 1866 wurde 1873 das Denkmal am Kirchberg gesetzt.
Industrielle Revolution in den Bergen
Der Krieg hatte Suhls unzulängliche Verkehrsverhältnisse noch einmal deutlich gemacht. Rohmaterialien kamen nur schwer herein, Fertigwaren brachte man kaum fort. Aber erst im Jahre 1879 war das Vorhaben einer Bahn gesichert. Preußen, das anfing die Bahnen in Staatseigentum zu überführen, wollte selbst eine Verbindung von Erfurt aus mit dem bayerischen Netz. Suhl musste allerdings die Grunderwerbskosten übernehmen. Notgedrungen gab man nach. Denn nach den guten Jahren, hatten 1877 wieder einmal die Staatsaufträge plötzlich aufgehört. Auf dem Balkan drohte durch den Konflikt zwischen Russland und der Türkei, sich ein allgemeiner Krieg zu entwickelt. Der Waffenbedarf wurde aber bereits in den meisten Staaten in eigenen Staatsbetrieben gedeckt, so dass man Suhl nicht mehr brauchte.
Immerwährende Wahrzeichen der Stadt
Durch Notstandsarbeiten suchte die Stadt zu helfen. Eine Suppenanstalt, so wie sie auch heute wieder in vielen Städten der BRD notwendig sind, musste eingerichtet werden, um den hungernden Menschen wenigstens eine warme Mahlzeit zu verabreichen. Wieder ging die Einwohnerzahl zurück und bei den kargen Verdienstmöglichkeiten war es kein Wunder, dass auch die Auswanderung wieder zunahm. Sind es doch die Jahre, in denen die deutsche Auswanderung enorme Zahlen erreichte, bis sie in den Jahren 1881 und 1882 mit einem jährlichen Verlust von 250 000 Menschen an Amerika ihren Höhepunkt erreichte.
Vorübergehend hatte der Bahnbau, der 1884 abgeschlossen wurde, etwas Erleichterung gebracht. Dafür hatte aber die Stadt eine Schuldenlast von 500 000 Mark auf sich nehmen müssen. Erst 1896 wurden ihr davon 300 000 M erlassen, nachdem sie 200 000 M abgezahlt hatte. Dabei erforderten wichtige Kulturaufgaben einer dringenden Lösung. Noch waren in Suhl längst nicht alle Straßen in gutem Zustand., noch fehlten überall die Bürgersteige. Ein Krankenhaus musste gebaut werden. Es gab keine Wasserleitung, obwohl die unzulängliche Wasserversorgung durch Brunnen, häufig Typhusgefahr hervor rief. Die langen Holzrohrzuleitungen verlangten ständig eine teure Unterhaltung. Dazu fing die Stadt an, sich nach dem Bahnhof hin auszudehnen. Wie fast überall in Deutschland, hatte man den Bahnhof außerhalb der Stadt angelegt. Die Post verließ ihr Heim in der Poststraße und baute sich hinter der Kreuzkirche ein neues Postgebäude. Der Steinweg musste mit der Bahnhofstraße dem wachsenden Verkehr angepasst werden. Bürgersteige wurden gelegt, die Straßen gepflastert und ein weiterer Zugangsweg zum Bahnhof von der Aue her, die heutige Ellerstraße, geschaffen.
Der Marktbrunnen noch ohne Waffenschmied

Wie der Krieg 1870/71 das äußere Gerüst des Reiches verändert hatte, so verlangte auch die neue Zeit eine Neuordnung im Inneren. Der Verwaltungsbericht von 1871 erwähnt zum ersten Mal den zunehmenden Klassengegensatz als eine Kriegsfolge und die Herausbildung eines starken Kapitalismus. Die soziale Frage, an der sich auch heute noch die Parteien die Zähne aus beißen, konnten mit ihren großen Problemen nicht gelöst werden. Im Anschluss an die soziale Gesetzgebung entstand 1880 die allgemeine Ortskrankenkasse. Das bisherige Kassenwesen einzelner Berufsgruppen wurde einheitlich geregelt, die Weberkasse ganz aufgelöst. Die größeren Firmen schufen sich eigene Betriebskrankenkassen.
Noch immer hielt die schlechte Zeit an. Als gar das Reich von seiner Freihandelspolitik zu Schutz- und Finanzzöllen überging, meinte man in Suhl, dass die Gewehrindustrie überhaupt zu Grunde gehen müsste. Man hatte sich daran gewöhnt, die Jagdgewehrläufe als Damastrohre ausschließlich aus Belgien zu beziehen, weil man sie bei ihrem geringen Preis hier nicht so billig herstellen konnte. Es war das Verdienst der Firma Sauer u. Sohn, die belgischen Einfuhren durch gebohrte deutsche Stahlläufe zu ersetzen.
Die alte Schmiede der Waffenproduzenten

Mit Beginn der 1890-er Jahre wurden noch einmal größere Staatsaufträge nach Suhl vergeben. Es war die sog. „Karabinerzeit“ als das Heer mit der neuen Waffe ausgerüstet wurde. Die Stadt benutzte die günstige Lage um die Wasserleitung und die Kanalisation fertig zu stellen. Allerdings mussten auch die schweren Hochwasserschäden von 1890 in Höhe von rund 50 000 M beseitigt werden. In diese Jahre fällt auch die Errichtung zweier Elektrizitätswerke. Seit 1892 lieferten die Firmen Gebr. Luck sowie Klett u. Schlegelmilch elektrischen Strom. Im Dezember 1877 hatte die „Henneberger Zeitung“ gemeldet, dass eine staunenerregende Erfindung vorgeführt worden sei: das Telefon. Von der Fa. Siemens u. Halske erfunden und hergestellt. Schon im Jahr darauf wurde die erste Telefonleitung zwischen Suhl und Heinrichs gezogen. Aber erst am 10. November 1896 wurde das Suhler Fernsprechnetz mit 15 Teilnehmern dem Verkehr übergeben. Der Telegraph war schon 1862 in Suhl bei der Post in Betrieb gegangen, nachdem die Leitungen in die benachbarten Städte gezogen worden waren.
Ihren Grundbesitz hatte die Stadt Suhl durch das ganze Jahrhundert hindurch bewahrt. Nur 1895 kam es zu einem vieldiskutierten Waldaustausch zwischen dem städtischen Besitz am Aschenhof, Otternkopf und in der Höchstedt gegen fiskalischen Wald am Domberg.
Von den kommunalen Betrieben hatte das Holzmagazin immer wieder Zuschüsse gefordert. Ein Sorgenkind blieb auch trotz aller Verbesserungen, die städtische Brauerei. Am 14. Juli 1893 wurde sie daher von einer Kommanditgesellschaft übernommen.
Heute versperrt der Wald solche Assichten
Der Überblick über die Geschichte von 1815 bis 1900 am Beispiel der Stadt Suhl, offenbart eine schicksalhafte Verkettung mit der deutschen Geschichte. Die industrielle Revolution und die Herausbildung des Kapitalismus brachten es mit sich, dass die Arbeiterschaft schamlos ausgebeutet und mit Löhnen abgespeist wurden, von denen sie nicht leben konnten. Man könnte dafür auch eine andere Stadt in der Region zum Vergleich heranziehen. Der Anschluss an Preußen hatte unsere Region aus dem Dornröschen Schlaf geweckt, in der sie unter der sächsischen Herrschaft versunken war. Die deutsche Zolleinigung hatte besonders Suhl einen erweiterten Markt gebracht, zu dem es durch den Straßenbau einen guten Zugang gewonnen hatte. In industriellen Hinsicht hatten jedoch günstiger gelegene Gebiete Suhl in jeder Hinsicht überflügelt. Die Waffenherstellung wurde beim Absinken der anderen Erwerbstätigkeiten der Hauptfaktor im gewerblichen Leben. So wurde die Waffenindustrie die Geschichte Suhls. Aber die Waffenerzeugung war eng verbunden mit der Politik. Ihr Wechselspiel wirkte sich schroff im Erwerbsleben der kleinen Stadt aus. Als aber die so unstetig. erteilten Staatsaufträge überhaupt nicht mehr erteilt wurden, galt es, neue Waren zu produzieren und neben dem deutschen Markt sich auch ausländische Absatzmärkte zu sichern. Dafür wurde man nun wieder in alle Krisen des Weltmarkts, die oft noch durch eine deutschfeindliche Zollgesetzgebung verstärkt wurden, hineingerissen.
Die sozialistische Bezirkshauptstadt in den Achtzigern

Auch nach 1900 bis in die Gegenwart (2010) gab es ein Auf und Ab in der Geschichte der Stadt Suhl mit einer zeitweise starken und kämpferischen Arbeiterschaft. - Eine blühende Stadt, auch zu DDR-Zeiten mit all den Vorzügen einer Bezirkshauptstadt. Ein tiefer Absturz nach1989! Natürlich ist der Bekanntheitsgrad der Stadt historisch durch die hervorragende Handwerksarbeit zur Waffenherstellung geprägt. Dennoch haben auch andere Industriezweige wie Fahrzeugbau, Porzellane, Mess- u. Elektrogeräte sowie Spezialmaschinen mit ihrem hohen Qualitätsstandard dazu beigetragen, das Können der Suhler in alle Welt hinauszutragen.

Literatur: Suhler Zeitung 1930 (Beitrag: Dr. Erich Jäger)