Montag, 7. November 2016

„-ing“ wie Schleusingen


Postkarte: Schleusingen
Jüngst erklärte Prof. Jürgen Udolph in seiner MDR-Radio-Sendereihe die Herkunft des Namens Schleusingen: http://www.mdr.de/mdr-thueringen/ortsname-schleusingen-100.html Mir reicht das aber nicht!
Udolph verwies auf den Namen Slusungen, mit dem die spätere Residenz der Grafen von Henneberg ab 1232 mehrfach bezeichnet wurde. Er bezog Slus auf den Fluss Schleuse, merkte aber an, dass es den Begriff Schleuse damals bei uns noch nicht gegeben haben kann. Er schlage die Herleitung vom mittelhochdeutschen slōz vor, was irgendeine Form von Matsch bedeuten könne, oder vom mittelniederdeutschen slūse, was auf eine Vorrichtung zum Einfangen von Fischen hindeute. Er leitet das ganze recht überzeugend ab und man kann Wissenschaftlern nur dankbar sein, wenn sie ihr Herz der Heimatkunde öffnen. So neu aber ist das alles nicht!
Schleusingen lag nie an der Schleuse!
Bereits 1932 zur 700-Jahr-Feier war Prof. Theodor Lorentzen, ein anerkannter Historiker und ehemaliger Schüler des hiesigen Gymnasiums, zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen. Er bezieht den Namen Schleusingen auf so genannte Fischwehre, lateinisch sclusen, die von den Mönchen aus dem Kloster Veßra angelegt worden sein könnten. Auch seine Begründungen ergeben einigen Sinn, besonders in Bezug auf den Alt-Standort der villa slusungen, die nicht dem heutigen entsprochen haben könne.
Auch der Matsch von slöze wurde schon vorgeschlagen, und zwar von Christian Junker, 1707 Konrektor wieder am Gymnasium, in seinem unveröffentlichten Werk "Ehre der gefürsteten Grafschaft Henneberg".
Und es gibt noch mehr: Willhelm Obermüller übersetzt 1873 in seinem Deutsch-Keltischen Wörterbuch Schleusingen mit slios-duingen, was so viel wie Berg-Abhang-Burg bedeuten soll. Dort finden wir auch den Namensvetter Schleussig, bei Leipzig. Er wird als sluis-tigh, Schloss-Ort angeboten. Andere Keltenforscher leiten -ing, -ung  vom gälischen "uisguinge" Wassergeher ab.
Doch damit sind wir mitten im Streit der Keltisten mit den Germanisten, der seit etwa 150 Jahren regelmäßig von Letzteren gewonnen wird. Doch es geht um mehr als Schreibstuben-Gezänk. Eine keltische Vergangenheit würde den so bezeichneten Fluren und Siedlungen ja ein wesentlich höheres Alter bescheinigen. Schleusingen - 2500 Jahre? Das geht nun gar nicht!
Nicht weit: Keltisches Oppidum Steinsburg
Und doch behaupten Frank Weiske und der verstorbene Ernst Fischer aus Suhl, dass ein bedeutender Eisenerzhandel zwischen dem keltischen Oppidum Steinsburg bei Römhild und den Bergbaugruben in Suhl genau über das spätere Schleusestädtchen verlaufen sei. Historiker zeichnen sogar einen Urweg von Bad Königshofen über Schleusingen, Oberhof, bis Arnstadt an Hand ausgegrabener Artefakte aus der Bronzezeit nach. Das wären dann mehr als 3000 Jahre! Wer sich jetzt an den Kopf greift, recherchiere mal die neuesten archäologischen Erkenntnisse zum Werra-Dörfchen Harras, das nachgewiesen mehr als 6000 Jahre auf dem Buckel hat. Hier werden auch schön die Muster deutlich, nach denen unsere Altvorderen ihre Siedlungen an Furten angelegt haben. Ein Vorbild für die Schleuse?  
Die Wanderung der Elbgermanen
Keine Angst! Natürlich ist zumindest der Name Schleusingen jünger. Denn das verrät uns die Nachsilbe -ingen. Prof. Udolph erklärt dazu lediglich, dass das Suffix von -ungen abgewandelt wurde und altgermanisch sei. Das aber geht konkreter. „-ingen“-Orte gibt es zunächst überall, wo Germanen während der Völkerwanderungszeit irgendwie mal zugeschlagen haben - von England bis Italien. Die Endung wird mit "Kinder von" bzw. "Nachfahren" gedeutet. Eine Zuordnung von Ingen müsste also über Siedlungsräume einzelner Stämme möglich sein. Tatsächlich ordnen viele Heimatforscher Siedlungsgründungen mit der Endung Ingen den Schwaben oder, hier gleichbedeutend, den Alemannen zu. Zwischen Donau und Main, wo jeder zweite Ort eine solche Endung hat, bekennen sich auch immer mehr Gemeinden offiziell als Gründung der suebischen Alemannen. Leider aber lehnen die meisten etablierten Linguisten eine solche Entsprechung ab. Dabei ist allgemein anerkannt, dass spätestens seit 400 n. Chr. germanische Okkupanten ihre Gründungen zur Unterscheidung von den Alteingesessenen mit ganz bestimmten Endungen versahen, wie -leben durch die Thüringer, oder -heim und -hausen durch die ersten Franken. Sogar wenn letztere die alten Ortschaften vereinnahmten, ist das an der Endung erkennbar, wie die ganzen -ingheims, -inghausen oder -ingrode beweisen.

Es gibt alleine in Deutschland 839 Ing- und 47 Ung-Namensendungen. http://www.ling.uni-potsdam.de/~kolb/DE-Ortsnamen.txt Schaut man sich deren Verteilungskonzentration an, entdeckt man Schwerpunkte nördlich vom Harz und im Schwäbisch-Alemannischen Raum. http://www.blogrebellen.de/2016/01/05/visualisierung-deutscher-ortsnamen-endungen/ Dazwischen gibt es einen breiten Gürtel in Richtung Süden, den westlichen Thüringer Wald querend. Auf dieser Route sind allein die Suebischen Stämme zugange gewesen, denen man Semnonen, Hermunduren, Quaden, Markomannen und Langobarden zuordnet. Alle begannen noch vor der Zeitrechnung Richtung Süden zu wandern. Die beiden letzteren waren nach Böhmen und Ungarn unterwegs. Die Quaden, zunächst auch am Main aktiv, landeten schließlich irgendwo im Osten. Unsere um das Mittelgebirge agierenden Hermunduren kamen nur bis zum Main. Die einzigen, die bis Süddeutschland zogen und sich dort nach und nach verbreiterten, waren die Semnonen. Sie werden als Hauptstamm der Sueben angesehen und in den römischen Quellen als Neckar-Sueben bezeichnet. Auch Teile der Quaden tauchen in der Forschung als Donau-Sueben auf.
Muster in Namensverteilungen
Die Diskussion, wer, wann, in welcher Koalition über das Römische Reich hergefallen ist, tut hier nichts zur Sache. Für unsere Untersuchung halten wir lediglich fest, dass die Sueben kurz vor der Zeitrechnung losmarschiert und 50 nach Chr. am Neckar angekommen waren. Hier expandierten sie langsam in alle Richtungen, um sich ab 350 etwa  auf den Höhen des Schwarz- und des Odenwaldes niederzulassen. Unter der Bezeichnung Alemannen arrangieren sie sich mal mit den Römern, mal legen sie sich mit ihnen an. (Erst später tauchte wieder der Name Sueben in der Bezeichnung für Schwaben auf.)Von allen anderen Stämmen, die wahrscheinlich den Thüringer Wald querten (Goten, Burgunden, Vandalen), ist bekannt, dass sie zielgerichtet südwestlich unterwegs waren und andere Räume okkupierten. Die Thüringer hinterließen südlich des Rennsteigs kaum Spuren, die Franken waren zwar überall, aber nachgewiesen erst später. Einzig die Sueben brauchten bis etwa 400 an den Flussfurten permanent Siedlungen, um die Trecks in den Süden infrastrukturell sichern zu können. Schutz wird kaum nötig gewesen sein, denn in dieser Zeit gab es keine nennenswerten Feinde ringsum. Und so kann es kein Zufall sein, dass die meisten Ingen-Orte auf o.g. Verteilungskarte an Flussübergängen zu finden sind, besonders an Werra, Main und Neckar.
Germanen und Römer
Entsprechend dieser lokalisierten Südwanderung müssen sich bei uns diese Siedlungen an Werra und Schleuse südwestlich des Thüringer Waldes konzentrieren. Und da sind sie auch: Salzungen, Breitungen, Schwallungen, Wasungen, Meiningen und Schleusingen. Genau auf der Marschroute der Sueben.
Furten gibt es auch an der Schleuse jede Menge. Nur die Lage von Alt-Slusungen ist nicht klar. Lorentzen verlegt sie an den Eichenhof unterhalb des Galgenrains, Heimatforscher bieten abwechselnd Haardt, Weißer Berg, Einfürst, Maiburg, Sand oder "Hügel" über Heckengereuth an. Allein die Menge alter Siedlungsoptionen zeigt an, dass die Gegend immer von Interesse gewesen sein muss. Dass der Unterlauf der Schleuse ab Schleusingen bis ins Hochmittelalter hinein der verlängerte Bach Vesser war, scheint nur formell von Bedeutung. Kompliziert wird die Sache hauptsächlich deshalb, weil der Fluss Schleuse die Stadt Schleusingen eigentlich niemals berührt hat. Und da ist ja auch noch der ominöse Schleuseberg hinter Wiedersbach, der ebenfalls weitab vom Fluss liegt. Ein Heimatforscher hat neulich diesen Höhenrücken mit seinen Abschnittsterrassen gar mit der prähistorischen Wallanlage Altenburg über Arnstadt verglichen. Dieser Berg und das mittelalterliche Scheusingen haben gemeinsam, dass von ihnen aus ein halbes Dutzend Altstraßen über den Thüringer Wald kontrolliert werden konnten...
Die Flurnamen um Schleusingen sprechen 
"germanische" Bände
Die Quintessenz: Im Namen Schleusingen scheint lediglich die Endsilbe einige Sicherheit zu geben. Doch das würde bedeuten, ihre Gründungszeit um die Zeitenwende anzunehmen. Schon höre ich die Archivstöberer tönen: Wo steht das geschrieben?! Nirgends, die Schreiberlinge begannen bei uns erst gegen 800 den Federkiel zu wetzen. Warum wissen das Koryphäen wie Prof. Udolph nicht!? Der weiß das sicher, scheint sich aber an die gängige Lehrmeinung und das urkundlich gesicherte deutsche Wort zu halten. Natürlich kann alles auch ganz anders gewesen sein, aber nach Auswertung aller mir zugänglicher Bruchstücke geschriebener und ergrabener Geschichte, sehe ich kein anderes Bild, würde mich aber über eine Kontroverse freuen.